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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 426<br />

116. Mozarts Wiegenlied<br />

Ich kann die Erinnerung an die musikalische Atmosphäre, welche die<br />

Deutschen für uns in Morschansk schufen, nicht abschließen, ohne den<br />

anmutigen Adoleszenten und Fähnrich zu erwähnen, der jeden Abend zum<br />

Zapfenstreich auf der T<strong>ro</strong>mpete die unsterbliche Melodie von Mozarts<br />

Wiegenlied blies. Die überlangen Noten des Mozartschen Melos aus der<br />

kraftvollen T<strong>ro</strong>mpete durchstießen das Dunkelgewebe, in das die Nacht die<br />

Taiga hüllte (in deren Mitte wir gefangen saßen), und stiegen empor… hoch<br />

empor…. Hoch hinauf, bis zu den Toren des Paradieses. Und dahinter flüsterte<br />

ein Engel mit dem Finger an den Lippen den anderen zu: „Pst! Es ist Mozart!“<br />

Und alle lauschten wie verzaubert. Wohl waren sie vertraut mit seiner Musik.<br />

Vielleicht war er gar einer der ihren. Wer weiß!<br />

Nachdem sie an die Tore des Paradieses stießen, ergossen sich dann die<br />

Laute im Widerhall plötzlich über die immense Taiganacht in<br />

einenmaufblitzenden Lichtstrahl, der dann in T<strong>ro</strong>pfen aufgelöst friedlich und<br />

streichelzart in unsere bekümmerten Seelen sank. „Gute Nacht, lieb Kind! Sei<br />

gesegnet für die Botschaft deines Liedes von hoch oben!“, sagte ich zu ihm in<br />

Gedanken (und nicht nur ich) und legte meinen Kopf aufs Kissen. Dieses<br />

tröstende Ende eines Tages in Gefangenschaft war uns so sehr zur Gewohnheit<br />

geworden, dass wir Abend für Abend ungeduldig auf das Moment der Nachtruhe<br />

warteten, um die überlangen und hellen Laute des Mozartschen Liedes in unsere<br />

Seelen aufnehmen zu können.<br />

Eines Abends jedoch erklang zum Zapfenstreich seine T<strong>ro</strong>mpete nicht<br />

mehr. Wir waren frustriert und legten uns missmutig schlafen, gleich Kindern,<br />

denen man ihr Spielzeug weggenommen hat. Am Abend darauf, das Gleiche, am<br />

folgenden, genau so. Wir fragten bei den Deutschen nach und erfuhren, dass er<br />

eines Abends, nachdem er zur Nachtruhe geblasen hatte (zum letzten Mal),<br />

mitsamt Gepäck (!) zum Tor bestellt worden war, woher er dann zusammen mit<br />

einer kleinen Gruppe im schwarzen Loch des okkulten Kreislaufs verschwand.<br />

Aus welchem Grund wohl? Keiner konnte diese Frage beantworten. Sein<br />

Verschwinden löste g<strong>ro</strong>ßes Mitleid aus, wie ich persönlich feststellen konnte. Er<br />

war damals bloß 19, also war er 17 gewesen im Moment der Kapitulation. Was<br />

für ein Kriegsverbrechen hätte denn ein Kind in diesem zarten Alter begehen<br />

können? Seither konnte ich das Wiegenlied nie mehr anhören, ohne dass die<br />

Silhouette eines Epheben des kleinen Fähnrichs vor meine Augen trat, wie er mit<br />

den silbernen Tönen seiner T<strong>ro</strong>mpete die Dumpfheit einer dunkeln und finsteren<br />

Nacht, dem Äon entsprechend, in dem wir leben mussten, zerriss.

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