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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 392<br />

103. Das Petunien<strong>ro</strong>ndell<br />

Das Ende der Quarantäne warf uns ins Herz eines g<strong>ro</strong>ßzügigen Sommers,<br />

wie wir bis dahin noch keinen erlebt hatten. Man quartierte uns nicht in eine<br />

andere Baracke um, wie dies gewöhnlich geschah, sondern nahm bloß das<br />

Schloss am Tor ab, so dass wir nach dem ersten Appell – der gemeinsam mit<br />

den anderen Pensionsgästen des Lagers aller eu<strong>ro</strong>-asiatischen Volksstämme<br />

stattfand – ausschwärmten, um das Lager zu erkunden. Es war, als hätten wir<br />

uns in einem Naturreservat der russischen Taiga befunden, mit viel Schatten und<br />

Kühle, und wären die Wachtürme nicht zu sehen gewesen, hätte man fast<br />

glauben können, frei zu sein. Es war Sonntag, und eine heilige Ruhe umhüllte<br />

alles.<br />

Wir betrachteten mit Entzücken den kleinen Bach, der durch das Wald-<br />

Lager floss und einen kleinen See bildete, an dessen Ufer sich ein<br />

Petunien<strong>ro</strong>ndell erhob. Die kleine Farb- und Duftoase umgab eine mit weißem<br />

Kiesel bestreute Allee, und entlang dieser standen Bänke aus Birkenbalken. Ich<br />

setzte mich auf die einzige, auf der noch jemand saß, ein älterer rumänischer<br />

Soldat, der in ein meditatives Schweigen vertieft war, aus dem ich – zugegeben<br />

– taktlos genug war, ihn herauszureißen, brannte ich doch darauf, die mich<br />

umgebende Welt zu erkunden, und zwar nicht nur die Natur, sondern auch die<br />

Menschen.<br />

„In keinem Lager, in dem ich war, habe ich eine so wunderbare Ecke als<br />

dieses Petunien<strong>ro</strong>ndell hier gesehen“, begann ich, nachdem wir ein paar<br />

Routinephrasen gewechselt hatten. „Es ist, als füllte es einem das Herz mit<br />

seinem Duft. Wohl dem, der auf die Idee kam, es anzulegen!“<br />

„Tja, Herr Leutnant“, erwiderte nach einer Weile der Soldat kopfschüttelnd,<br />

„Ihnen füllt’s das Herz mit seinem Duft, mir aber mit Kummer. Ja, dies Hügelchen<br />

voller Blumen ist ganz besonders schön. Wissen Sie aber, was darunter liegt?<br />

Wie viele Leben es zudeckt, wie viele Schreie, wie viel Gebrüll und Geheul es mit<br />

seiner Erde erstickt hat, aus der nun diese Blumen wachsen, deren Duft einen<br />

berauscht?“<br />

„Sehen Sie mich an!“, und er nahm sein Käppi ab, dass sein schlohweißes<br />

Haar zum Vorschein trat. „Ich war nicht mal 25, aber in jener Nacht bin ich<br />

komplett ergraut. Denn in der Hütte, die hier niedergebrannt ist, befand sich auch<br />

mein kleinerer Bruder, Vasilic\.“<br />

Auf meine stumme Frage in meinen Augen hin, wie sich denn jenes<br />

Unglück zugetragen habe, begann der Mann in aller Ruhe zu erzählen. Aber um<br />

zu jener Nacht zu gelangen, musste er erst mit all dem bis dahin Erlittenen<br />

beginnen, bis er in diesen Wald kam. Gleich mir, war auch er am Donbogen in<br />

Gefangenschaft geraten, und nach den zwei Wochen Wahnsinnsmarsch durch<br />

die russische Steppe und weitere zwei in den weißen Todeswaggons wurde er<br />

hierher, in diese Taiga gebracht, einer der ca. 2000 Überlebenden von den<br />

10000, die anfangs aufgeb<strong>ro</strong>chen waren.

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