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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 55<br />

„He, Jungs, wenn Gott ihn bis zu uns gebracht hat, geschah dies, damit<br />

wir ihn weiterführen, bis ans Ende des Leidensweges. Helfen wir ihm und Gott<br />

helfe auch uns!“<br />

„Helfen wir ihm und der Herr im Himmel helfe auch uns!“, antworteten<br />

unsere Jungs, und damit war’s beschlossen, dass wir uns seiner annahmen. Es<br />

war f<strong>ro</strong>stig geworden. Wir gingen, mit dem Verwundeten in unserer Mitte,<br />

gemessenen Schrittes weiter, ihn abstützend. Wir kamen an unserem<br />

Journalisten vorbei, der, den der NKVD-Ter<strong>ro</strong>r bis an den Rand des Wahnsinns<br />

getrieben hatte, noch bevor er diesen erfahren hatte. Er hatte seine Schritte<br />

verlangsamt, seine Hände zitterten, die Zähne klapperten vor Kälte wie vor<br />

Angst, seine Augen quollen hervor und er stammelte etwas Unverständliches.<br />

„Ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll“, flüsterte mir der Mann zu,<br />

den ich gebeten hatte, sich um ihn zu kümmern. „Wenn er von Sinnen ist, was<br />

kann ich da noch für ihn tun? Ich kann ihn doch nicht Huckepack nehmen.“<br />

Wir gingen mit unserem Verwundeten weiter. Dieser fügte sich den<br />

Anforderungen und strengte sich verzweifelt an, Schritt zu halten.<br />

Bald holten wir die beiden Leistungssportler ein. Sie sahen kläglich aus,<br />

wankten schweren Schrittes und keuchend voran, einer auf den anderen<br />

gestützt. Ich erstarrte. Ihr bedauernswerter Anblick stellte alle meine Ansichten<br />

auf den Kopf, was die Indizien des Widerstands bei außergewöhnlichen<br />

Anstrengungen betraf: physische Kraft, Training, Reserven des Körpers. Wie<br />

kam es denn, dass mein Infanterist, ein Spänchen von Mann mit einer so ernsten<br />

Wunde und so erschöpft, Schritt mit uns hielt, und diese Athleten mit ihrer von<br />

Erschöpfung weit entfernten physischen Kondition nahe am Zusammenbrechen<br />

waren? Da gab es ein gewisses „Etwas“, dass ich nicht auf meine Rechnung<br />

genommen hatte, hingegen entscheidend war: die innere Kraft, der Wille zu<br />

leben, vielleicht auch das einfache Vertrauen eines Bauern auf Gott, kurz gesagt,<br />

die Festigkeit der Seele, sie war unerschütterlich bei Ersterem und wohl<br />

unzureichend bei meinen Leistungssportlern.<br />

Übrigens, nach den Ausbrüchen von Verzweiflung und Revolte in den<br />

ersten Stunden hatte einen guten Teil der Menge Resignation und Apathie<br />

erfasst. Manche marschierten Automaten gleich voran, mit gesenktem Blick,<br />

abgestürzt in die eigene Innenwelt, in jenem Zustand, der der Selbstübergabe in<br />

die Arme des Todes vorausgeht. Meine Jungs und ich, wir versuchten sie aus<br />

diesem inneren Abgrund zu reißen. Einige von ihnen traktierten wir mit<br />

Faustschlägen in den Rücken, wir hielten nicht inne, bis wir sie nicht<br />

wachrüttelten; manche von ihnen verfluchten uns auch, letztlich ein gutes<br />

Zeichen der Rückkehr in die Normalität. Jene, bei denen wir weiße Flecken im<br />

Gesicht entdeckten – unzweifelhafte Zeichen des Erfrierens – ohrfeigten wir, bis<br />

ihre Wangen sich röteten. Andere, niedergedrückt vom Schlaf und völlig<br />

erschöpft, setzten sich auf irgendeinen Schneehaufen am Wegrand, um ein<br />

bisschen zu verschnaufen. Verfangen im süßen Gefühl des Todes durch<br />

Erfrieren, kapierten sie nicht, warum sie denn aufstehen sollten und p<strong>ro</strong>testierten,<br />

wenn wir sie mit Gewalt aus den wunderlichen Gefilden des Todes stießen,<br />

zurück auf die furchtbaren Stege der Existenz. Selbstverständlich brauchten all<br />

diese mitunter brutalen Eingriffe, durch welche wir die noch zu Rettenden vom

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