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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 383<br />

einer goldenen Uhr mit B<strong>ro</strong>nze. „Mein Gott“, dachte ich bei mir, „hoffentlich<br />

kommt zu Hause kein Schwachkopf von einen Kulturnik auf die Idee, die Pfeiler<br />

des Athenäums zu kalken!“<br />

Vom Zentrum, wo uns der Laster absetzte, gingen wir zu Fuß Richtung<br />

Bahnhof los. Wir bogen auch in Seitenstraßen ab, bis wir in einem Gässchen auf<br />

eine im Schatten von Bäumen versteckte kleine Kirche stießen. Sie war offen<br />

und weil wir einen Freitag hatten, gingen wir davon aus, dass man die Messe zu<br />

Ehren der heiligen Jungfrau hielt. Schaudernd traten wir ein. Seit fünf Jahren<br />

hatten wir keine Kirche mehr betreten. Wir zündeten Kerzen an und setzten uns<br />

in den Chor. Es waren wenige Leute da, fast nur Frauen.<br />

Die Wände waren vor langer Zeit, zur Revolution wohl, getüncht worden,<br />

aber die hie und da abblätternde Kalkschicht enthüllte mitunter ein Stückchen<br />

von einem Heiligen. Der Priester, ein mumienhafter Alter in mottenzerfressenem<br />

Messgewand, gerade so, als habe man ihn aus einem Sarg mit den Reliquien<br />

eines Heiligen hervorgeholt, sang mit näselnder, fadenscheiniger Stimme, die<br />

jeden Moment endgültig zu erlöschen schien. Seine Messgehilfen hingegen,<br />

zwei Kraftp<strong>ro</strong>tze mit runden, unverwechselbar typischen NKWD-Gesichtern und<br />

kurzen, wie angeklebten Bärten, ließen die Wände erzittern mit ihrem Geblöke,<br />

das stellenweise falsch war, gleich ihren Bärten. Von Zeit zu Zeit warfen sie uns<br />

fragende, p<strong>ro</strong>fimäßig abschätzende Blicke zu. Angst überkam mich plötzlich, wie<br />

in Gegenwart von etwas Unlauterem. Ich machte den Jungs ein Zeichen, uns<br />

doch davonzumachen, und wir gingen uns bekreuzigend hinaus. Gleich mir<br />

hatten auch sie das Gefühl gehabt, dass sich in dieses Haus Gottes die Geister<br />

des Unbruders eingeschlichen hatten.<br />

Wir kamen pünktlich auf dem Bahnhof an, wo uns der Deutsche freudig<br />

mit einer guten Nachricht erwartete. Morgen früh haben wir eine direkte<br />

Verbindung nach Morschansk. Da würde er die Verantwortung für eine schwerer<br />

als eine Hasenherde zu führende Gruppe los werden und ihm auch noch etwas<br />

Zeit für eine Guleaj (Party mit Mädchen) bleiben, so er noch ein paar Rubel im<br />

Karman (in der Tasche) übrig haben sollte.<br />

Und noch was Gutes. Von der Bahnhofsdirektion hatte er einen etwas<br />

abgelegen Raum erhalten, wo wir uns wenigstens in der letzten Nacht richtig<br />

ausruhen konnten. Also führte er uns weg aus dem Bahnhofsgewimmel und<br />

brachte uns in den zweiten Stock in einen leeren Saal. Von den Fenstern<br />

desselben konnten wir in den riesigen Wartesaal blicken, mit seinen beiden<br />

kontrastierenden Welten: jene der Vergangenheit, mit den aulischen,<br />

monumentalen Wänden, mit vergoldetem Stuck, und jene der Gegenwart mit der<br />

dazwischen b<strong>ro</strong>delnden Menge all der Elenden.<br />

Tags darauf kam der Zug selbstverständlich nicht am Morgen, sondern<br />

erst nach Mittag. Angesichts dessen konnte nicht mehr die Rede von einem<br />

Stadtbesuch sein. Wir verbrachten unsere Zeit auf den Basaren, die in den Sälen<br />

und auf den Bahnsteigen unaufhörlich Gestalt annahmen und wieder<br />

verschwanden, versuchten mal was zu verkaufen, mal was zu kaufen oder zu<br />

tauschen mit der hin- und herwogenden, auf ihre Züge wartenden Bevölkerung.<br />

Bei einem solchen Handel schloss ich Bekanntschaft mit einem jungen<br />

Paar. Er kam aus Sibirien, sie aus Murmansk. Sie hatten sich vor einer Woche<br />

hier auf dem Bahnhof kennen gelernt, als sie beide eine Verbindung nach Baku

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