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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 382<br />

„Keine Sorge!“, antworteten wir ihm lachend. „Wir sind Meister im<br />

Hungern. Es ist auch alles, was wir in der Sowjetunion bestens gelernt haben.“<br />

Er sagte, wir hätten den ganzen Tag über frei, um in Kasan spazieren zu<br />

gehen und die wichtigsten Denkmäler der Stadt zu besichtigen, mit der<br />

Bedingung, um acht Uhr abends wieder an unserem Platz im Wartesaal zu sein.<br />

F<strong>ro</strong>h darüber ließen wir unser Gepäck in der Aufsicht derer von uns, die keine<br />

Lust hatten, spazieren zu gehen, und sprengten auseinander gleich Rebhühnern.<br />

Einige von uns, die aus dem , was uns der Deutsche gesagt hatte,<br />

geschlossen hatten, dass man uns in Morschansk neue Kleider geben werde,<br />

überlegten, dieses oder jenes zu erübrigende Kleidungsstück hier zu verkaufen,<br />

um an ein paar Rubel zu kommen. („Bei Gott! Damit wir auch ein Bier trinken<br />

können oder einen kleinen Wodka, es brennt ja nicht.“) Also denn begannen sie,<br />

auf dem Bahnhof Käufer für Altkleider zu suchen – zu Preisen, die „jeder<br />

Konkurrenz spotteten“. Und bei den Möglichkeiten der p<strong>ro</strong>letarischen Armut, die<br />

auf den Gängen und Bahnsteigen der Station ihr Elend zur Schau trug, weckten<br />

unsere Lumpen – vor allem die Winterkleider mit etwas Pelz – alsbald Interesse.<br />

Und in kurzer Zeit hatten einige von uns ihre Kleidung auf Hemd (dazu ein<br />

kurzärmeliges) und Hose reduziert. Einer dieser minimal Gekleideten war auch<br />

mein Kumpel Gabi. Der Grund allerdings, der ihn zu dem Kleidungsopfer bewegt<br />

hatte, war ein besonderer. Mit den dafür ergatterten Rubeln gedachte er Wodka<br />

zu kaufen, um damit die Zunge unseres Deutschen zu lockern, dessen<br />

Schwäche für Alkohol er bereits bemerkt hatte und dem er wertvolle<br />

Informationen, ja sogar persönliche Geständnisse entlocken zu können hoffte –<br />

und er sollte sich nicht täuschen.<br />

Als wir den Bahnhof verließen, war der erste Anblick, der sich uns bot,<br />

jener eines alten Tataren, der einen genau so alten Ziegenbock am Strick führte.<br />

Er schritt gemächlich über das Kopfsteinpflaster, umso mehr, als ihn kein Auto<br />

störte. Der Tatare trug mitten im Sommer eine spitze Mütze auf dem Kopf, mit<br />

dem Fell nach außen gekehrt, genauso wie auch sein Pelz. Was mich verblüffte,<br />

waren die beiden gleich langen und spitzen Bärte der beiden – des Ziegenbocks<br />

und des Alten.<br />

Da sehe einer, sagte ich zu mir, was aus dem Kasan der Goldenen Horde<br />

übrig geblieben ist. Wir waren eine Gruppe von vier, fünf Männern, darunter auch<br />

Gabi. Mit ein paar Rubeln überzeugten wir den Chauffeur eines Lasters, der vom<br />

Bahnhof Arbeiter abholen gekommen war, uns doch bis ins Zentrum<br />

mitzunehmen. Zwei Jahre nach Kriegsende sah Kasan grau aus, matt und<br />

uninteressant. Die Boulevards waren fast leer. Die wenigen Fußgänger waren<br />

schlecht oder armselig gekleidet. Vorbeifuhren bloß LKWs mit Arbeitern oder<br />

Materialien, LKWS welche den unverwechselbaren Geruch nach russischem<br />

Benzin hinter sich zurückließen. Bei der Geschwindigkeit des Lastwagens konnte<br />

ich weder den Stil noch die eventuelle Schönheit der Bauten erkennen. Alles,<br />

was ich festhielt, war die schmutzig-graue, für das Sowjetregime typische dünne<br />

Dreckschicht, welche die gesamte Urbanistik verschmutze. Wir gelangten vor die<br />

Universität, ein monumentales Bauwerk mit grandiosem Peristyl. Aber was<br />

sahen meine Augen? Seine Steinpfeiler waren mit Kalk gestrichen. Unglaublich,<br />

aber wahr! Einen so edlen Baustoff wie Stein mit Kalk zu bedecken war der<br />

Gipfel der Gemeinheit. Das war doch genau so, als überziehe man das Gehäuse

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