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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 418<br />

112. Das japanische Theater<br />

Dank Yimori Toru konnte ich mit eigenen Augen einige Aspekte ihrer<br />

Kultur kennen lernen. Etwa das Theater. Ich wohnte der Aufführung eines<br />

Stückes aus dem klassischen Repertoire (verfasst im XVII. Jahrhundert, laut<br />

Y.T.) bei. Die Kostüme entsprachen jener Epoche, das Make-up war Klasse. Das<br />

Spiel, sei es nun mit Masken, sei es mit bis an die Grenze des Surrealismus<br />

geschminkten Gesichtern, verfügte über eine seltsame Expressivität und eine<br />

sonderbare, fast aufregende Verführungskraft. Ein weiteres Element, das mich<br />

überraschte, war die Dauer des Schauspiels: acht Stunden. Y.T. sagte mir, es<br />

sei die gekürzte Fassung, die Originalfassung dauere 16 Stunden.<br />

Selbstverständlich schaffte es kein Zuschauer, von Anfang bis zu Ende einer<br />

solchen Aufführung beizuwohnen. Im Saal gab es ein kontinuierliches Hin und<br />

Her. Die Menschen standen auf, gingen essen oder anderes erledigen; andere<br />

kehrten nach dem Essen gestärkt zurück, um weiter das Schauspiel zu<br />

verfolgen. Natürlich konnte ich aus dem, was ich von diesem klassischen Stück<br />

sah, nicht viel verstehen, all dem guten Willen meines Begleiters zum T<strong>ro</strong>tz.<br />

Hingegen kam ich fast zu gut mit einem strikt aktuellen Stück zurecht, das ad hoc<br />

nach einer marxistisch-leninistischer Schablone konfektioniert worden war. Die<br />

japanischen Revolutionäre stürmten mit flatternder <strong>ro</strong>ter Fahne den kaiserlichen<br />

Palast, holten Mikadou vom Th<strong>ro</strong>n, zerrten ihn vor das Volkstribunal und<br />

knüpften ihn mit heiliger p<strong>ro</strong>letarischer Wut auf!<br />

Und das japanische Publikum zollte selbstverständlich frenetisch Beifall.<br />

Auf meine erstaunten Blicke hin antwortete Y.T. mit seinem üblichem Lächeln<br />

und fügte noch hinzu: „Um unsere Taktik zu verstehen, hättest du auch von<br />

unseren martialischen Kampfkünsten eine Ahnung haben müssen. Schau, im<br />

Jiu-Jitsu etwa antwortet man dem machtvollen Druck des Gegners nicht mit einer<br />

entsprechenden Erwiderung, sondern, im Gegenteil, man macht ihm den Weg<br />

frei, ja, man begünstigt seine Bewegung, so dass er auf die Nase fällt. In diesem<br />

Fall drängt uns der Gegner: «Nieder mit dem Kaiser!! Wir aber wehren nicht<br />

etwa ab, sondern überbieten und antworten wie folgt: «Wir begnügen uns nicht<br />

damit, ihn zu entth<strong>ro</strong>nen, nein, wir knüpfen ihn sogar auf! Seid ihr jetzt<br />

zufrieden?» Danach folgt das Auf-die-Nase-Fallen des Gegners, wenn er – nach<br />

unserer Repatriierung natürlich – feststellt, dass wir unseren Kaiser nur auf der<br />

Bühne entth<strong>ro</strong>nen und aufhängen. Selbstverständlich gibt es welche unter uns –<br />

glücklicherweise sind’s wenige, die im Eifer des Spiels vergessen, dass wir alle<br />

bloß auf einer Bühne stehen, und interpretieren ihre Rolle etwas zu natürlich.<br />

Letztlich aber sehe ich ziemlich schwarz für diese, die über die Stränge<br />

schlagen“, schloss mein Freund seine Ausführungen zum Parallelismus von<br />

martialischen Kampfkünsten und ihrer Politik in der Gefangenschaft.<br />

Schließlich kehrten sie Ende des Herbstes heim. Ich sah sie zum Tor<br />

marschieren, schwer bepackt mit ihrem riesigen Gepäck voller wertvoller<br />

Nichtigkeiten. Allen voran intonierte die sowjetische Blaskapelle die<br />

Sonnenhymne (wie wir das Lied anfangs naiverweise genannt hatten), die nun

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