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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 319<br />

Die Fahrgeschwindigkeit ließ uns vermuten, dass wir an einen Personenzug<br />

angekoppelt waren.<br />

Aber wohin brachte man uns denn? Dieser Sing-Sing-Waggon, der für den<br />

Transport der gefährlichsten Verbrecher – dies waren selbstverständlich die<br />

politischen – in Eisen und Handschellen vorgesehen war, war ein Hinweis dafür,<br />

dass auch wir einer solchen Aufmerksamkeit würdig waren, und dass wir kein<br />

anderes Reiseziel haben konnten als auch andere, die vor uns hier<br />

vorbeigebracht worden waren. Und dieser Ort konnte nur der Osten sein… nicht<br />

der Ursprungs des Lichtes, sondern jener Osten, gen den unter der Milchstrasse<br />

seit Jahrhunderten der Sklavenweg führt. T<strong>ro</strong>tz dieser Evidenz gab es noch<br />

welche, wenn auch wenige, die meinten, dass angesichts des internationalen<br />

politischen Kontextes (ich weiß nicht, warum sie diesen denn so <strong>ro</strong>sig<br />

einschätzten, konnte man doch aus der Sowjetpresse den Anfang des Kalten<br />

Krieges herauslesen) jeder Abtransport nur gen Westen gehen, also eine<br />

Repatriierung sein musste. Einer der Verfechter dieser These war auch<br />

Burckhardt, der Lehrer aus Bessarabien und Periwotschik (Dolmetscher) für<br />

Russisch, der uns gegenüber saß und entschieden die Idee vertrat, wir führen<br />

gen Westen. Es wurde Abend und dunkel. Über der Tür jedoch ging eine kleine<br />

Glühbirne an, bei deren trübem Licht der Wächter auf dem Korridor all unsere<br />

Bewegungen verfolgte. Wie im Zuchthaus. Wir aßen, was wir noch mit auf den<br />

Weg genommen hatten, dann schliefen wir, müde vom Marsch und von der<br />

emotionellen Belastung des Tages, ein. Am Morgen wurden wir um fünf geweckt.<br />

Der Reihe nach führten uns die neuen Bewacher – komisch: sie behandelten uns<br />

korrekt – zum WC und zum Waschen. Etwa um sieben bekamen wir Tee und<br />

korrekt abgewogene Portionen B<strong>ro</strong>t, Zucker und Fett. Mir fiel ein, was mir ein<br />

Altgefangener, der in der schrecklichen Lubjanka (Moskau) gewesen war, von<br />

der strikten Korrektheit der Rationen und des Benehmens der Wächter in den<br />

„Untersuchungs“-Gefängnissen (anders als in den Lagern) erzählt hatte, und<br />

stellte nun fest, dass uns bereits während des Transports eine<br />

Strafanstaltsbehandlung zuteil wurde. Gegen Mittag heiterte sich der Himmel auf,<br />

und auf dem dichten Vorhang des Gangfensters erschien ein Lichtflecken, die<br />

Sonne.<br />

„Jungs“, begann Clonaru, und blickte auf seine Uhr, „es ist punkt zwölf<br />

Uhr. Jetzt steht die Sonne im Süden, und die Richtung, in die wir fahren, liegt<br />

links von der Sonne, also im Osten.“<br />

Aber er hatte gar nicht erst richtig ausgesp<strong>ro</strong>chen, als sein Burckhardt,<br />

sein „Gegenüber“, bleich im Gesicht aufsprang, sich auf ihn stürzte und ihm an<br />

den Hals griff.<br />

„Du Verbrecher!“, schrie er ihn schäumend an. „Willst auch meine letzte<br />

Hoffnung umbringen?“<br />

Ersch<strong>ro</strong>cken sprangen wir alle hinzu, um seine Hände aus dem Würgegriff<br />

um Victors Hals zu lösen und ihn zu beruhigen. Der Unglückliche ließ sich auf die<br />

Sitzbank sinken und begann zu weinen. Seine Nerven waren mit ihm<br />

durchgegangen. Wir versuchten ihn davon zu überzeugen, dass man ihm nicht<br />

seine Hoffnung kaputt machen – wir alle brauchten ja Hoffnung, sondern ihn von<br />

einer bösartigen Illusion befreien wollte, in die er sich t<strong>ro</strong>tz aller Evidenz verrannt<br />

hatte. Mit Tränen in den Augen bat er Victor und uns, ihm zu verzeihen, wir

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