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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 378<br />

er den letzten Kriegstag erlebte. Das Bein aber hatte er in den Tiefen eines<br />

Bergwerks (Sachti) verloren, in einem Straflager (wahrscheinlich ein politisches),<br />

in dass man ihn, kurz nach seiner Entlassung aus der Armee, für sieben Jahre<br />

gesteckt hatte. Davon hatte er fünf abgearbeitet, um dann dank dem glücklichen<br />

Unfall, der ihn arbeitsunfähig machte, freizukommen, war er denn nun für die<br />

Herrschenden nicht mehr interessant. Er kam aus Sibirien, aus einem<br />

Lagerspital, und war f<strong>ro</strong>h, dass er mit dem Preis eines Beines sein Leben<br />

gerettet und seine Freiheit wieder erlangt hatte.<br />

Also denn, der erste freie Mensch, dem ich begegnete, war ein befreiter<br />

Häftling gleich mir. Er war 32, wie auch ich, „génération des sacrifice sans<br />

f<strong>ro</strong>ntières“. Und ebenso wie auch ich hatte er als Reisep<strong>ro</strong>viant in seinem<br />

B<strong>ro</strong>tsack die gleichen drei Universalnahrungsmittel für alle Transporte auf dem<br />

Gebiete der Union: Zwieback (Sucharej), Salzfisch (Siljotka) und Grütze<br />

(Pschenitza).<br />

Auf den Bahnsteigen aller sowjetischen Stationen funktionierte schon seit<br />

Zarenzeiten Tag und Nacht ein Samowar, von dem man sich mit kochendem<br />

Wasser bedienen konnte. Dies goss man in einen Napf über eine Handvoll<br />

Grütze, die sofort dick und weich wurde und sich in eine schmackhafte Kascha<br />

verwandelte. Hinzu kamen also der steint<strong>ro</strong>ckene Zwieback und der salzstarre<br />

Fisch sowie die von dieser Kombination geforderten Liter Wasser, da kann man<br />

sich vorstellen, wie satt (oder wie aufgebläht) man am Ende eines solchen<br />

Festmahls sein konnte. Wenn ich auf irgendeinem Bahnhof ausstieg, um heißes<br />

Wasser zu holen, nahm ich auch seinen Napf, um ihm die Mühe mit seinen<br />

Krücken zu ersparen. Nach drei Tagen stieg er aus und verlor sich in einem der<br />

Dörfer am rechten Ufer der Wolga. Beim Abschied gestand er mir äußerst<br />

vorsichtig den Grund, weswegen er verurteilt worden war. Da er ein loses<br />

Mundwerk besaß, hatte er, kaum heimgekehrt, von dem Versprechen Marschall<br />

Jukows gesp<strong>ro</strong>chen, dass nämlich die Bauern Grundbesitz bekämen und jeder<br />

Kombattant seinen Verdiensten entsprechend mit einem Stück Grund belohnt<br />

werden würde. Ob Jukow nun so etwas versp<strong>ro</strong>chen hatte, weiß man nicht, und<br />

dies ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass dieses Versprechen g<strong>ro</strong>ßen Anklang<br />

in der mythologisierenden Mentalität des russischen Volkes gefunden hatte,<br />

gerade weil es einer allgemeinen Hoffnung auf Grundbesitz entsprach.<br />

Da er ein dynamisierender Faktor für den Gewinn des Krieges war, wurde<br />

der Mythos vom versp<strong>ro</strong>chenen Grundbesitz anfangs toleriert, wenn nicht gar<br />

insgeheim von der Geheimpolizei der Armee ermutigt. Dies bis zum Sieg.<br />

Danach wurde er als eine Gefahr für den sowjetischen Sozialismus verfolgt,<br />

gründete sich dieser doch auf der kollektiven Bewirtschaftung durch Kolchosen<br />

und Solchosen. Und so war auch mein gelegentlicher Weggenosse, wie viele<br />

andere auch, ein Opfer seiner Leichtgläubigkeit geworden.<br />

Unsere Reise ging entlang einer riesig-sanften Wolga weiter, deren<br />

ruhigen und beruhigenden Wellen die heitere Bläue eines Sommerhimmels und<br />

das explosive Grün der Uferwäldchen und Auen spiegelten, aber auch das<br />

geheimnisvolle Dunkel der endlosen Taiga.<br />

Dieser Weg in völliger Freiheit und mit uneingeschränktem Zugang zu der<br />

uns umgebenden zivilen Welt, inmitten einer vor Licht, Farbe und Frische<br />

st<strong>ro</strong>tzenden Natur, ergänzt vom aufwühlenden Charme der

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