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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 87<br />

Eimer gefüllt hatte, trank ich, allen P<strong>ro</strong>testen und Flüchen des Tschassowojs<br />

zum T<strong>ro</strong>tz, gierig ein paar gute Schluck Wasser, den letzten begleitete ein<br />

kräftiger Gewehrkolbenschlag übers Rückgrat, dass ich fast umgefallen wäre. Als<br />

ich wieder im Waggon war, die Tür verschlossen und das Wasser aufgeteilt<br />

worden war, wollte ich aus meinem Rucksack den Fisch und den Zwieback<br />

holen. Keine Spur davon. Nachdem die Revolte meiner Magensekretionen etwas<br />

nachgelassen hatte, tröstete ich mich mit dem Gedanken, wie irre vor Hunger der<br />

Täter – immerhin ein Intellektueller, waren wir doch alle Offiziere hier – wohl<br />

gewesen sein musste, um etwas so Erniedrigendes zu tun: zu stehlen.<br />

Unglücklicherweise sollten unter dem Druck des Hungers, der einen letztendlich<br />

auch um den Verstand bringen kann, später auch in den Lagern solche<br />

Verhaltensschäden auftauchen und unsere Existenz trüben, vor allem im ersten<br />

Jahr der Gefangenschaft, das wir vorwiegend im Zeichen des Hungers<br />

verbrachten. Was mir jetzt passiert war, lehrte mich wenigstens eins: „Bewahre<br />

deine Ration von heute nicht bis morgen auf!“ Daran sollte ich mich daraufhin die<br />

ganze Gefangenschaft über halten. Jenseits der gelegentlichen Wutausbrüche,<br />

hervorgerufen von der erdrückenden Enge, in der wir lebten, die dazu führte,<br />

dass der Schuh des einen im Gesicht eines anderen landete, verlor sich unser<br />

Leben in einem endlosen St<strong>ro</strong>m von Schlaf und Lethargie. Daraus wachten<br />

einige von uns nie mehr auf. Gestorben wurde vor allem nachts, wenn im dicken<br />

Dunkel und dem Hin- und Herwiegen des Waggons für jene, die sich im P<strong>ro</strong>zess<br />

der Loslösung vom Leben befanden, die Grenze zwischen Schlaf und Tod sich<br />

zunehmend verwischte, bis sie völlig verschwand. Sie folgten dem Ruf der<br />

Eisenbahnräder oder hörten auf die Stimmen der Sirenen und übergaben sich<br />

den schwarzen Wellen des Todes, die sie an das helle Ufer der Glückseligen<br />

spülten, wo es keinen Schmerz, weder Traurigsein, noch Seufzen mehr gibt.<br />

Fast jede Nacht flüchtete sich jemand aus dem Waggon der Wirklichkeit und ließ<br />

als Pfand seinen von Schmerz ausgezehrten Leib zurück. Aber sofort befreiten<br />

die f<strong>ro</strong>mmen Hände eines Kumpels ihn von all seinen nutzlos gewordenen<br />

Kleidungsstücken – für den noch Lebenden waren sie von Nutzen. Während<br />

dieser Operation hielt der Betreffende eine rührende Lobrede auf den<br />

Verstorbenen, in der er die lange und enge Freundschaft betonte, die sie vereint<br />

hatte und die ihn – selbstverständlich – dazu berechtigte, dessen Sachen zwecks<br />

ewigen Gedenkens an sich zu nehmen. Dann öffnete sich in irgendeiner<br />

Haltestelle die Tür und in ihr erschien ein Konvoimann und fragte, wie viele<br />

Gefangene denn heut’ Nacht gestorben seien. „Einer“, antwortete der Chor. Malo<br />

(Wenig), erwiderte dieser mahnend. „Im Nebenwaggon sind fünf gestorben“,<br />

sagte er uns mit dem Tonfall eines Aufrufs zum sozialistischen Wettbewerb:<br />

welcher Waggon denn die meisten Toten p<strong>ro</strong> Nacht p<strong>ro</strong>duziert.

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