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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 94<br />

Pritschen, die wir auch sofort erstürmten, um uns – ein jeder so gut er konnte –<br />

auf den nackten Brettern auszudehnen. Es war Abend geworden; der makellose<br />

Schnee von draußen warf an die Fensterscheiben, wie in einem Theaterdekor,<br />

ein blaues Licht. Das aber nach und nach im Dunkel der Erdhütte erlosch und<br />

unsere Augen mit der gleichen Finsternis wie in den Todeswaggons, denen wir<br />

gerade erst ent<strong>ro</strong>nnen waren, konf<strong>ro</strong>ntierte, eine Finsternis, die<br />

selbstverständlich auch von den Anfängen der Welt herrührte, bevor es zu dem<br />

Ausspruch kam: Fiat lux! Wir lagen also ausgestreckt auf den Brettern der<br />

Betten, erdrückt von diesem vollkommenen, nicht die kleinste Fissur<br />

aufweisenden Dunkel, wie nur die Finsternis der Hölle es sein kann. Wir warteten<br />

nun darauf, dass man uns das Essen für jenen Tag brachte. (Das uns aber nicht<br />

mehr gebracht wurde, weil wir noch nicht auf der Rationsliste standen.) Und da<br />

passierte es plötzlich, das Wunder: mitten in die Finsternis hinein ging das Licht<br />

an. Eine armselige wattschwache Glühbirne, die in der Mitte der Baracke<br />

baumelte, hatte mit ihrem gelblich-trüben Licht die Kräfte der Finsternis<br />

auseinander gerissen. Das Licht wurde mit Hurrarufen aufgenommen.<br />

Der T<strong>ro</strong>pismus des Lichts war unerhört. Alle Augen richteten sich auf die<br />

kleine schmutzig-gelbe Glühbirne und konnten sich nicht mehr davon loslösen.<br />

Es kamen Gefangene aus den Ecken der Baracke, wohin nur ein schwacher<br />

Widerschein des Lichts gelangte, in die Mitte, um sich unter die Birne zu setzen<br />

und mit der Ekstase der Schmetterlinge, die eine brennende Kerze umkreisen, in<br />

ihr Licht zu blicken. Es war wie eine Exorzisierung all des Dunkels, das in den<br />

zwölf Nächten im Viehwaggon bis in den hintersten Winkel in uns eingedrungen<br />

war. Schließlich brachte man uns immerhin einen Bottich mit heißem Tee, der<br />

unter die Glühbirne gestellt wurde. Das vom Teedampf gefilterte diffuse Licht<br />

tauchte die Antlitze derer, die wir unsere Näpfe zur Schöpfkelle hin streckten,<br />

irgendwie in ein Rembrandsches Helldunkel, das die eingefallenen<br />

Gesichtszüge, die zerzausten Bärte und das Glitzern der tief in ihren Höhlen<br />

liegenden Augen abschwächte und mindestens für eine Weile Entspannung<br />

brachte. Nachdem der Bottich leer umgekippt wurde, k<strong>ro</strong>chen wir auf unsere<br />

Pritschen und bereiteten uns für die Nacht vor. Wir wussten noch nicht, dass in<br />

den Ritzen der Stangen, Balken und Bretter, aus denen unsere Betten<br />

bestanden, uns ein winziges Volk von Blutbestien auflauerte: jenes der Wanzen.<br />

Die Konf<strong>ro</strong>ntation sollte sich als äußerst hart herausstellen. Ausgehungert, wie<br />

sie waren, seit sie auf ihrem Territorium keinen Menschenleib mehr aufgespürt<br />

hatten, warfen sie sich nun frenetisch auf uns, um sich mit Blut voll zu tanken.<br />

Der Morgen fand uns, nach einer schlaflosen Nacht, müde und bleich vor, so<br />

dass wir nach dem frugalen Frühstück (Tee und B<strong>ro</strong>t) und nach der Zählung<br />

(eine Stunde lang) zurück auf unsere Pritschen stiegen, um den Schlaf<br />

nachzuholen und uns so für die kommende Nacht zu wappnen. Aber unser<br />

Kampf mit den Wanzen (den nächtlichen Feinden) hatte uns die Läuse (die<br />

Tagesfeinde) vergessen lassen, die nun aggressiv ihr natürliches Recht auf<br />

unsere Leiber einforderten. Ade Schlaf! Erbittert durch den Verlust des so<br />

wertvollen Schlafes, starteten wir eine Vernichtungsaktion gegen die verfluchten<br />

Parasiten, denen wir in der fürchterlichen Enge der Waggons nichts anhaben<br />

konnten. Immerhin hatten sich die Umstände geändert. Wir konnten uns freier<br />

bewegen; konnten unsere Wäsche auf dem Schnee in der Kälte ausbreiten; wir

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