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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 385<br />

in Sonne getauchten Landschaften eines g<strong>ro</strong>ßzügigen Sommers. Von allen<br />

Bildern, die ich vom Fenster des Wagens registrierte, prägte eines mich<br />

besonders, erschütterte mich und verscheuchte durch seine schmerzliche<br />

Unerhörtheit meine Euphorie. Ein geackertes Feld voller Steine und vier kräftige<br />

Frauen, die wie Arbeitstiere an einer g<strong>ro</strong>ßen Egge (wie für einen Traktor) zogen.<br />

Damals fielen mir nicht Repins Wolgaschlepper ein, welche den Kahn<br />

über den Sand ziehen, sondern der Wald von Oranki, wo wir vor die mit<br />

Birkenstämmen – dem Elfenbein – beladenen Schlitten gespannt uns die Seele<br />

aus dem Leib zogen. Aber der Schnappschuss mit den vier Frauen an der Egge<br />

rührte mich mehr als die Erinnerung an unsere eigene Sklaverei. Er blieb in<br />

meinem Gedächtnis als das emblematische Bild für die gesamte Sowjetunion mit<br />

all ihren humanistischen Ansprüchen, darunter die schlimmsten Erniedrigungen<br />

der menschlichen Natur und Würde hervorgrinsen.<br />

Und nun zu unserem Deutschen und seinen Erinnerungen… Angeregt von<br />

der (für alle Lebensp<strong>ro</strong>bleme kompensatorischen) Aktion des Wodkas erzählte er<br />

uns in der letzten Reisenacht und bei der letzten Flasche aus seinem Leben, von<br />

seiner Kindheit im heimatlichen Dorf und vom Schicksal der gesamten deutschen<br />

Gemeinschaft der Sowjetunion. Es ging um die Wolgadeutschen, die von Zarin<br />

Katharina II. nach Russland gebracht worden waren, um die einst fruchtbaren,<br />

aber entvölkerten und brachliegenden Gebiete am östlichen Ufer des St<strong>ro</strong>mes zu<br />

besiedeln. Durch Organisation, Geschick und Arbeit, den Deutschen so eigen,<br />

wurde diese Region vielleicht zur blühendsten des zaristischen Russlands. Die<br />

Revolution änderte kaum den Charakter und das Lebensniveau dieser<br />

Gemeinschaft, welche die Deutsche Wolgarepublik mit der Hauptstadt Engels<br />

geworden war. Sie passte sich p<strong>ro</strong>blemlos der neuen Gesellschaftsordnung und<br />

deren Besitztumsregime an, und dank Organisationsgeist und der bekannten<br />

Tüchtigkeit und Redlichkeit gelangten die Wolgadeutschen erneut an die Spitze<br />

des Landes, nun der Sowjetunion. (Was ihnen aber, durch den dadurch<br />

entfesselten Neid, fatal werden sollte.)<br />

Er hatte keine andere Lebensweise kennen gelernt als die gegenwärtige,<br />

kommunistische, aber auch innerhalb derer prägten seine Kindheits- und<br />

Jugenderinnerungen ein heiteres, sorgenfreies Leben im Respekt der<br />

traditionellen Werte, die vom sowjetischen Sittenverfall nicht berührt wurden. In<br />

den Hungersjahren, als die Bauern wie die Fliegen wegstarben, nachdem man<br />

sie auch ihrer letzten Nahrungsvorräte beraubt hatte, konnten die<br />

Wolgadeutschen dank ihrer Solidarität gut leben, auch nachdem man ihnen alles<br />

weggenommen hatte. Im allgemeinen sowjetischen Inferno hatten sie eine Stätte<br />

des akzeptablen Lebens wenn nicht gar des Wohlstands eingerichtet. (Was in<br />

den Augen des Kremls unverzeihlich war.)<br />

Dies bis zum Ausbruch des Krieges im Jahre 1941. Damals ließ der<br />

rasche Vorstoß der deutschen Kolonnen zum Herzen Russlands hin im Kreml<br />

den Verdacht aufkommen, dass die kleine und friedliche Deutsche Wolgarepublik<br />

mit dem Feind paktieren könnte, so wie es die Tataren auf der Krim getan hatten.<br />

Und so lösten sie im Nu die suspekte Republik auf, und mit ihrem formidablen<br />

Massenrepressionsapparat hoben sie die gesamte Bevölkerung aus und<br />

siedelten sie nach Sibirien um, wobei sie den Führern des kleinen Staates, der<br />

intellektuellen Elite und dem Verwaltungsapparat ein besonderes Regime zuteil

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