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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 498<br />

treu zu bleiben, dann sind wir wahrhaftig wahnsinnig. Allein, dieses Wahnsinns<br />

werden wir uns nie schämen müssen. Denn es ist ein heiliger Wahnsinn, etwas,<br />

was dem nahe kommt, was Apostel Paulus Wahnsinn im Dienste Jesus Christi<br />

nennt.“<br />

(Und tatsächlich kann ich jetzt, ein halbes Jahrhundert nach diesen<br />

Ereignissen, behaupten, dass das Einzige in meinem Leben, worauf ich richtig<br />

stolz bin, die Tatsache ist, dieser Gruppe von Wahnsinnigen angehört zu haben,<br />

die wir zwischen den Zähnen des <strong>ro</strong>ten Leviathans unter schrecklich ungleichen<br />

Machtverhältnissen verzweifelt dafür gekämpft haben, Menschen zu bleiben, und<br />

mit der Preisgabe so vieler Jahre, darunter sich die schönsten des Lebens<br />

befanden, an die Gefangenschaft hinter Stacheldraht, gelang uns dies.)<br />

Das war mein Geisteszustand an einem Dezembermorgen, als ich auf<br />

Hauptmann Lungu stieß, ein Mann mit einem äußerst ausdrucksvollen Gesicht<br />

und mit dem ich vor langer Zeit schon ausgemacht hatte, ihm ein Porträt zu<br />

malen, ohne je dazu gekommen zu sein, mein Vorhaben zu Ende zu führen.<br />

„Herr Hauptmann, ich glaube, ab morgen können wir mit dem Porträt<br />

beginnen“, sprach ich ihn an.<br />

„Mit dem Porträt? Gerne, aber ich glaube nicht, dass da noch Zeit dafür<br />

ist“, erwiderte er. „Wir kehren heim, Maest<strong>ro</strong>! Aus mit den Porträts.“<br />

„Wie kommen Sie denn darauf…? Sie haben doch nicht etwa von Ihrem<br />

Pferd geträumt?“ (ich erinnerte mich sofort an das Teufelsloch, an Ustschoara,<br />

vor etwas mehr als vier Jahren, als wir nach einer so genannten Heimkehr vieler<br />

Kameraden zurückgeblieben waren und alle niedergeschlagen dasaßen, als er<br />

mit der explosiven Nachricht ankam: „Wir kommen hier weg. Ganz bestimmt. Ich<br />

habe von meinem Pferd geträumt.“ Und so war es denn auch. Wir brachen<br />

allesamt noch am Abend des gleichen Tages auf.)<br />

„Genau… Ich habe von ihm geträumt… Und bislang ist es mir noch nie<br />

passiert, von ihm zu träumen, ohne dass wir danach irgendwohin aufbrachen.“<br />

Der Tag aber verstrich ohne jegliche Anzeichen, das auf einen Aufbruch<br />

schließen ließ. Am Abend jedoch, gleich nach dem Zapfenstreich, teilte uns der<br />

von einer Rummypartie zurückkehrende Vonica, bevor er ins Bett k<strong>ro</strong>ch, die<br />

letzte Neuigkeit mit, die er von den Soldaten, die im Lebensmittellager arbeiteten,<br />

gehört hatte: Sie hatten den Befehl bekommen, die Vorräte zu sortieren und<br />

reisespezifische Lebensmittel vorzubereiten (Kaschagrütze, Salzfisch,<br />

Zwieback…).<br />

„Na also, dies ist tatsächlich ein etwas realistischeres<br />

Aufbruchszeichen…“ „Aufbruch“. Nun, da das Wort einmal in die Wasser unserer<br />

Seelen gefallen war, löste es Wellen aus, die sich unentwegt fortpflanzten, bis<br />

sie an die Gestade der Erinnerung stießen, um dann zurückzukehren und aus<br />

jener Nacht, wahrhaftig die letzte in Odessa, eine schlaflose Nacht zu machen.<br />

Was würde ich denn zu Hause noch vorfinden? Was meine Ehe betrifft, so hatte<br />

ich aus gewissen Auslassungen in Mutters Briefen (und nicht etwa aus klar<br />

Gesagtem) schließen können, dass sie den Erschütterungen und Wendungen<br />

dieser Epoche nicht standgehalten hatte und mich damit abgefunden. Mutter<br />

aber und die gesamte kleine uns umgebende Welt von zu Hause, die ich<br />

unversehrt zurückgelassen hatte, wie mochte sie nun, nach so vielen riesigen<br />

und monströsen Umstürzungen aussehen? Und mit diesen Gedanken im Kopf

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