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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 124<br />

Rücken verpassten und mich dafür verfluchten, dass ich ihnen Arbeit gemacht<br />

hatte, führten sie mich auf eine verlassene Kolchose, die in ein Lager<br />

umgewandelt worden war, wo seit einigen Tagen tausende von rumänischen<br />

Soldaten eingepfercht waren. Als sie herausbekamen, dass ich Offizier war,<br />

sperrten mich die Russen in einen Schuppen ein, um mich nachher zum Verhör<br />

zu bringen. Da das Schloss aber ein rudimentäres war, entkam ich aus dem<br />

Arrest und mischte mich unter die Soldaten. Die Armen, sie hatten bis dahin gar<br />

nichts zu essen bekommen. Nach ein paar weiteren Tagen mit dem gleichen<br />

Ernährungsregime holten sie uns aus dem Pferch raus und brachten uns in<br />

einem Gewaltmarsch auf irgendeinen Bahnhof. Schon von Anfang an vom<br />

fehlenden Essen im Lager zermürbt und da wir auch während des Marsches<br />

nichts zu beißen bekamen, befanden wir uns in einer verzweifelten Situation.<br />

Und unter all der Hetze, den Flüchen und den nicht seltenen<br />

Gewehrkolbenschläge der Tschassowojs konnten wir uns kaum noch<br />

dahinschleppen. Einer nach dem anderen gerieten jene, die mit der Kolonne<br />

nicht Schritt halten konnten, vor die Läufe der Schlusswachkette, die sie dann<br />

sofort von allen Mühsalen und Leiden und allem Hunger mit einer einzigen Kugel<br />

in die Stirn erlösten, während die ersch<strong>ro</strong>ckene Menge unter letzten<br />

Anstrengungen aufstöhnte und versuchte, sich von dem verfluchten<br />

todbringenden Ende der Kolonne so stark wie nur irgend möglich zu entfernen.<br />

Bis wir am Abend des sechsten Tag des Gewaltmarsches und Hungerns, als wir<br />

auf dem Kamm eines Hügels Rast machten, in die Nüstern den Rauch eines<br />

Herdes bekamen, der aus dem rechts von uns liegenden Tal heraufströmte.<br />

Unser Riechsinn, der bis zum Pa<strong>ro</strong>xysmus vom Hunger angekratzt war, schälte<br />

aus diesem Rauch auch Essensgerüche heraus. Ob nun reell oder imaginär,<br />

diese Gerüche lösten einen Zustand kollektiver Hysterie aus. «Das Dorf, seht,<br />

das Dorf! », begann die entfesselte Menge zu schreien. Und tatsächlich konnte<br />

man unten im Tal ein paar Lichtlein blinken sehen. Damit brach die Krise des<br />

Massenwahnsinns aus. Zum Schrecken der Tschassowojs, usbekische<br />

Jünglinge, die eine recht dünne Schützenkette bildeten, nahm die Menge der<br />

Gefangenen, wie durch ein Wunder von dem Gedanken wieder belebt, dort<br />

unten etwas zu essen zu finden, mit Geschrei und Gebrüll Richtung Talgrund<br />

Reißaus, einer Lawine gleich, die alles, was sich ihr in den Weg stellte, platt<br />

machte. Die unglücklichen Usbeken schafften es nicht einmal, Warnschüsse<br />

abzugeben, als sie bereits unter die Walze des Wahnsinns und des Hungers<br />

gerieten. Mitgerissen von der Menge stieg ich auch die Hänge des Hügels hinab,<br />

unter denen bei ein paar Öllichtern ein ärmlicher Weiler friedlich vor sich<br />

hinschlummerte und dessen Einwohner – Alte, Frauen und Kinder – ihr elendes<br />

Abendessen beendeten.<br />

Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, was sich jene ruhige Welt da unten<br />

wohl gedacht hat, als sie das Rauschen des Sturzbaches von tausenden von<br />

Stimmen hörte, die schrieen: «Essen, Essen (Kusseti, Kusseti)!!. Mit welchem<br />

Schrecken werden die Leute da wohl wie in einem Hor<strong>ro</strong>rfilm gesehen haben,<br />

wie durch Türen und Fenster in ihre Stuben, Vorratskammern und auf ihre<br />

Dachböden die abertausenden von Polypen dieses kollektiven Monsters genannt<br />

Hunger stürzten und wie diese alles, alles, alles, was sie fanden, in Stücke rissen<br />

und verschlangen. Die Unglücklichen, geschockt vom Wahnsinn des Spektakels,

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