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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 90<br />

obschon erfunden – unsere Herzen erreicht hatte. Der Vorschlag wurde<br />

einstimmig akzeptiert und da niemand sich fand, den Anfang zu machen, bot ich<br />

selber mich an, dies zu tun, um die Aktion letztlich vor dem Scheitern zu<br />

bewahren. Ich wählte den Roman Der Aufstand von Liviu Rebreanu 39 aus, den<br />

ich meinen Schülern der VIII. Klasse in meiner Abschiedsstunde vorgestellt<br />

hatte, die ich vor fünf, sechs Monaten für sie gehalten hatte, bevor ich an die<br />

F<strong>ro</strong>nt musste. Der Anfang war peinlich; meine vor Hunger schwache und leise<br />

Stimme half mir in keiner Weise. Bald ward ich heiser, sodass ich in Panik geriet<br />

und mich fragte, ob ich meine Präsentation denn zu Ende werde bringen können.<br />

Zum Glück wurde meine Stimme nach einem Schluck Wasser wieder besser,<br />

und ich fasste nach und nach wieder Vertrauen in mein Erzählen, als ich sah,<br />

dass man mir aufmerksam zuhörte.<br />

Ich schloss die Augen, der Waggon verwandelte sich in den Schulsaal der<br />

VIII. Klasse. Die Wände waren weiß; die Tafel ungewischt; oben, die Portraits<br />

des Königs 40 und des Marschalls 41 .Ich sprach vom Katheder und war wieder<br />

zum Lehrer von einst geworden. Der Applaus, der das Ende der Lektion<br />

unterstrich, ließ mich meine Augen öffnen. Die Wirklichkeit war erträglicher<br />

geworden. Die Gesichter, sanfter nun, zollten mir Sympathie. Das Experiment<br />

war gelungen. Ich war geflüchtet, und sie auch. Ich schlief glücklich ein, mit dem<br />

Gedanken: „Gott, wie sehr hat doch der arme Mensch die Fiktion nötig.“<br />

In jener Nacht ist niemand mehr gestorben.<br />

Das Experiment wurde, dank der zunehmend lebendigeren Teilnahme von<br />

Erzählern, auch an den nächsten Nachmittagen und Abenden weitergeführt. Der<br />

Roman Der Rosenkranz von Florence Barclay 42 , den uns ein Rechtsanwalt aus<br />

T=rgovi[te 43 erzählte, bekam von den Zuhörern anhaltenden Beifall. Es stimmt, er<br />

war ein Bestseller der 1930er Jahre, aber im Grunde genommen ein süßliches<br />

Gefasel mit Lords und Ladies, mit Lakaien, Schlössern und nicht zuletzt auch mit<br />

reichen Mahlzeiten. Wenn das keine Flucht war!<br />

Selbstverständlich hütete ich mich davor, meine Meinung zu diesem Buch<br />

kundzutun. Warum auch, wenn den Zuhörern seine Atmosphäre so wohl tat? Wir<br />

bekamen damals noch Rebecca 44 , Der Hutmacher und sein Schloss 45 , Die<br />

Schlüssel des Reiches 46 und viele andere Erfolgsbücher jener Jahre zu hören.<br />

Es wurden auch Filme erzählt (am beliebtesten waren die italienischen, wie etwa<br />

Die eiserne K<strong>ro</strong>ne 47 oder Ein <strong>ro</strong>mantisches Abenteuer 48 ). (Es darf hier nicht<br />

vergessen werden, dass des Krieges wegen in unseren Kinos keine englischen,<br />

amerikanischen oder französische Filme mehr zu sehen waren.) Es wurden auch<br />

39<br />

Dieser Roman (im Original: „R!scoala“) aus dem Jahre 1932 von Liviu Rebreanu (1885-1944), erschien<br />

1962, in der Übersetzung von Thea Constantinidis, im Volk und Welt Verlag auch auf Deutsch.<br />

40<br />

Michael von Rumänien.<br />

41<br />

Ion Antonescu.<br />

42<br />

„The Rosary” von Florence L. Barclay (1862-1921).<br />

43<br />

Kreishauptstadt im Süden Rumäniens, nördlich von Bukarest.<br />

44<br />

Roman von Daphne Du Maurier (1907-1989).,<br />

45<br />

Roman von A.J. C<strong>ro</strong>nin (1896-1981).<br />

46<br />

??<br />

47<br />

La co<strong>ro</strong>na di Fer<strong>ro</strong> (1941), in der Regie von Alessand<strong>ro</strong> Blasetti.<br />

48 ??

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