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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 144<br />

Vor allem störte ihn der Vers „Prends l’éloquence et tords lui son cou!“<br />

(„Dreh den Hals um jedem Rednerwort!“ 71 ), worin er eine Beraubung der Poesie<br />

um ihre deklamatorische Komponente sah, die ja für ein so temperamentvolles<br />

Publikum, wie es die mediterranen Italiener sind, alles andere als unwichtig war.<br />

Letztlich aber akzeptierte er in Gesprächen unter vier Augen Punkt für Punkt die<br />

Auffassung Verlaines (jemand wie er konnte doch nicht Gefangener einer<br />

veralteten Poesieauffassung bleiben), gestand mir aber auch zutiefst betrübt:<br />

„Ca<strong>ro</strong> Marcolesco, é difficile essere poeta simbolista“ (Lieber M…, es ist schwer,<br />

ein symbolistischer Dichter zu sein). Aber da zu jener Zeit auch der Symbolismus<br />

bereits eine überholte Kunstformel war, sagte ich ihm, er habe nichts zu bereuen,<br />

und suchte ihn über den italienischen „Futurismus“ auszuforschen, der damals<br />

en vogue war. Als er dieses Wort hörte, sah mich Iolly schräg an und sagte nur<br />

soviel: „Der Futurismus? Das ist doch nicht dein Ernst!“<br />

Als Gegendienst für meine Exkurse über die französische Literatur erteilte<br />

mir Iolly Italienischunterricht, wobei er anfangs als Arbeitstext das miserable und<br />

subkulturelle P<strong>ro</strong>pagandablättchen Das Freie Wort benützte, das in allen im<br />

Lager vertretenen Sprachen herausgegeben wurde, also auch in italienischer.<br />

Als ich soweit war, mich etwas besser auf Italienisch ausdrücken zu können,<br />

gingen wir zu klassischen Texten über, etwa zu Gesängen aus Dantes Inferno,<br />

die mir „il mio maest<strong>ro</strong> e duca“ aus dem Gedächtnis diktierte und ich in ein aus<br />

Birkenrindenblatt konfektioniertes Heftlein mit einem Tintenbleistiftstumpf<br />

niederschrieb. Den Bleistift hatte ich von außerhalb des Lagers für ein Päckchen<br />

Zigaretten gekauft, welches mich seinerseits eine B<strong>ro</strong>tration gekostet hatte. Dies<br />

war der Tauschkurs an der Schwarzmarktbörse des Lagers. Aber Iolly war nicht<br />

der einzige, der mir klassische Texte lieferte. Auch ohne sein gewaltiges<br />

Gedächtnis zu haben, konnte fast jeder Italiener mindestens „una lirica“ (ein<br />

Gedicht) – wenn nicht gleich mehrere – auswendig, und meine keinesfalls leichte<br />

Aufgabe bestand darin, die Verwahrer dieser wertvollen Güter ausfindig zu<br />

machen und vor allem dann in günstiger Stimmung zu erwischen.<br />

Angefangen mit Dante (auch mit seinen Sonetten, nicht nur mit der<br />

Göttlichen Komödie), mit den Sonetten Petrarcas und Michelangelos, mit<br />

Foscolo (I sepolcri) 72 , Manzoni (Cinque Maggio) 73 und Leopardi (Il sabato del<br />

villaggio) 74 bis hin zu Carduci, Pascoli und schließlich D’Annunzio 75 wuchs mein<br />

Birkenrindenblattheftchen letztendlich sehenden Auges zu einer Anthologie<br />

italienischer Lyrik. Freilich eine rudimentäre Anthologie mit Lücken und Fehlern,<br />

aber eine authentische, wage ich zu behaupten, denn sie bestand daraus, was<br />

de Schiffbruch des Gedächtnisses dank dem Rettungsring der Sensibilität<br />

überlebt hatte. Hat denn nicht ein französischer Denker die Kultur als das<br />

definiert, „was übrig bleibt, wenn man alles vergessen hat“? 76<br />

71<br />

Zitat aus Verlaines „Art poétique“ / „Die Dichtkunst“, in der Übertragung von Sigmar Löffler.<br />

72<br />

Ugo Foscolo (1778-1827). I sepolcri (Die Gräber, 1807) ist eines seiner schönsten Gedichte.<br />

73<br />

Alessand<strong>ro</strong> Manzonis (1785-1873) Gedicht Il Cinque Maggio (Der fünfte Mai) entstand im Todesjahr<br />

Napoleons (1821).<br />

74<br />

Giacomo Leopardi (1798-1837) – Der Samstag auf dem Dorf (1829).<br />

75<br />

Giosuè Carducci (1835-1907), Giovanni Pascoli (1855-1912), Gabriele D’Annunzio (1863-1938).<br />

76<br />

Eduard Herriot (1872-1957), französischer Politiker und Staatsmann.

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