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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 412<br />

110. Die Frauen im Lager, Polinnen und Deutsche<br />

Als wir erfuhren, dass sich in der Baracke der Polinnen auch eine<br />

beträchtliche Zahl von orthodoxen Frauen befand, überlegten wir, die wir einen<br />

sehr guten Chor mit einem reichhaltigen Repertoire hatten, ihnen an einem der<br />

Sonntage ein religiöses Konzert zu bieten. Der ihnen von Cotea präsentierte<br />

Vorschlag rührte sie, angesichts dessen, dass es auf diesem immensen<br />

Lagerjahrmarkt auch noch Menschen geben konnte, die an sie und an den<br />

orthodoxen Glauben dachten.<br />

Es wurde der Sonntag festgelegt, an dem das Konzert stattfinden sollte,<br />

sowie auch, dass sie anschließend, zum Dank, für uns ein Schauspiel mit<br />

Chormusik und Tänzen darbieten würden.<br />

Dem Konzert auf der im hinteren Teil der Baracke imp<strong>ro</strong>visierten Bühne<br />

wohnten alle Polinnen, ohngeachtet der Konfession, bei, ja sogar auch eine<br />

Reihe von deutschen Frauen aus der Nachbarschaft, was mich in die Pflicht<br />

nahm, nach Cotea, der das P<strong>ro</strong>gramm auf Russisch und Polnisch vorstellte,<br />

dieses für die Deutschen auch in deutscher Sprache zu präsentieren. Viele<br />

Frauen hatten Kinder, manche gar an der Brust, und diese ergänzten die ernsten<br />

Akkorde des Chores mit kleinen Schreien und Gegreine. In der gesamten<br />

Baracke schwebte ein frischer Geruch nach mit Wäscheseife gewaschenen<br />

Säuglingen.<br />

Während wir sangen, betrachtete ich der Reihe nach alle Antlitze der vor<br />

uns versammelten Zuschauerinnen, die sich oben und unten auf den Betten vor<br />

der Bühne drängten. Es waren von Leid geprägte Gesichter, in welche die<br />

Spuren der Todeswaggons und der erschöpfenden Arbeitslager eingegraben<br />

waren, jene des Hungers und der Kälte, und für manche von ihnen auch jene der<br />

bestialischen Gruppenvergewaltigungen, die ihnen für den Rest ihres Leben ein<br />

Trauma sein würden. Kurz, aus ihren Gesichtern war das gesamte schreckliche<br />

Auf und Ab durch dieses Inferno zu lesen, in dem ein insolenter und brutaler,<br />

aber mit „humanistischem“ Dünkel ausgestatteter Sieger sie dazu verurteilt hatte<br />

– für welche Schuld denn? – viele Jahre des Leids zuzubringen. Aber in dem<br />

Maße, in dem die ernsten Akkorde unserer liturgischen Lieder sich Stege der<br />

Ruhe zu ihren Gemütern bahnten, merkte ich, wie ihre Gesichter, von dieser<br />

oder jener Träne erweicht, sich langsam entkrampften und ein leichtes Licht des<br />

Mysteriums sie erhellte. Wunderschön schienen mir all diese Antlitze in jenem<br />

Moment der Gnade, in dem das Geheimnis der Musik den Schauer des Heiligen<br />

berührte. Noch schöner aber als alle schien mir eine junge Deutsche in der<br />

ersten Reihe. Sie saß auf einem Stuhl, zwischen zwei jungen deutschen<br />

Offizieren. An ihrem Stuhl aber lehnte ein Krückenpaar. Sie trug Hosen, die – wie<br />

ich sofort merkte – nicht schlanke und graziöse Mädchenbeine verbargen,<br />

sondern grässliche Holzp<strong>ro</strong>thesen. Wie nur war dieses wunderbare Geschöpf<br />

hierher geraten, das t<strong>ro</strong>tz seines tragischen Zustandes im Blick ein Lächeln und<br />

ein Licht bewahrt hatte, wie eine Versöhnung mit dem Schicksal, dies sollte ich<br />

kurz später erfahren.

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