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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 503<br />

daherkamen, um das eh schon fragile Gleichgewicht ihrer Existenz zu stören?<br />

Und was für Prüfungen, was für Gefängnisse würden denn in dieser unserer mit<br />

Füßen getretenen und vom Atem der Bestie geschändeten „Heimat“ noch unser<br />

harren? Oh, Gott, wie hatten wir uns denn diesen lang erwarteten Augenblick der<br />

„Repatriierung“ ausgemalt! War es denn zum Gesetz für uns geworden, dass<br />

jede unserer Erwartung erst dann in Erfüllung ging, nachdem sie aller Freude bar<br />

war und nur noch von Angst und Bitterkeit begleitet wurde?<br />

Hin- und hergewiegt vom Stampfen der Zugräder fühlten wir uns wie im<br />

Frachtraum eines Schiffes, das das Meer der Ungewissheiten zum Zielhafen hin<br />

durchquerte… „Ithaka“… Jeder von uns hatte sein eigenes Ithaka. Jeder war auf<br />

seine Art ein Odysseus gewesen. Jeder hatte mit dem Zyklopen Polyphem<br />

gekämpft (der mit seinem einzigen Auge alles einseitig sah und nicht verstand,<br />

warum wir denn auch noch ein zweites brauchten). Jeder hatte mit<br />

Wachsstöpseln im Ohr den verlockenden und tödlichen Liedern der Sirenen<br />

widerstanden. Wir waren mit Geschick durch die Meerenge zwischen der Scylla<br />

der Sünde und der Charybdis des Todes hindurchgeschifft und hatten danach im<br />

g<strong>ro</strong>ßen, unvergleichlichen, unendlichen Schiffbruch alles verloren, bis auf unsere<br />

Seele.<br />

Und diese letzte Überlegung füllte unser Herz mit unsagbarem T<strong>ro</strong>st. So<br />

zerlumpt, elend, verfolgt und schwach, wie wir waren, sollten wir im Bewusstsein<br />

der Gesellschaft, in die wir neu verpflanzt wurden, eben so viele lebende<br />

Beweise der Anklage sein für all jene, die im Schutze der Fahne mit Sichel und<br />

Hammer heimgekehrt waren… Ohne auch nur ein Wort zu sagen, sondern bloß<br />

durch unsere simple Gegenwart, sollten wir allen beweisen, dass es möglich<br />

gewesen war, auch ohne das Zeichen der Bestie auf der Stirn heimzukehren.<br />

Aber wenn die von diesen „lebenden Beweisen der Anklage“<br />

angesp<strong>ro</strong>chenen Personen (die jetzt an der Spitze der Macht saßen) versuchen<br />

sollten, diese zu zerstören, was würden wir dann tun?<br />

Nichts. Wir würden darauf warten, dass sich die Macht Gottes in der<br />

Schwäche der Menschen zeige.<br />

Die ganze Nacht über fuhren wir mit einer für einen Güterzug<br />

ungewöhnlichen Geschwindigkeit dahin, überquerten Gewässer, sooft dass<br />

typische Rattern über eine Brücke zu hören war. Es gab auch einige Stopps,<br />

ohne dass wir wissen konnten, auf was für Stationen wir hielten und in welche<br />

Richtungen wir fuhren, bis wir gegen Morgen, müde vom Nervenkonsum nach<br />

einer durchwachten Nacht, in einen tiefen, vom Schwanken der Räder gewiegten<br />

Schlaf fielen. Auch die Zählung am Morgen gab uns keine Gelegenheit vom<br />

Tschassowoj irgendeinen Anhaltspunkt herauszubekommen, wo wir uns<br />

befanden.<br />

„Ihr kehrt heim. Was wollt ihr mehr?“ Und er warf die Tür zu, schob die<br />

Riegel vor.<br />

Ein milchiger Nebel löste die Konturen aller Dinge auf. Masten, Bäume,<br />

Wälder, Flüsse, Bahnhöfe glitten im Weiß des Schnees mit Geschwindigkeit an<br />

uns vorbei gleich Geistern. Also reisten wir, wie man sagt, mit dem Kopf im Sack.<br />

Was uns beschäftigte, war die Frage, ob wir denn bereits in Bessarabien<br />

waren, und wenn ja, warum wir dann kein rumänisches Wort vernahmen? In der

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