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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 462<br />

Da er darauf wartet, dass es Abend werde und der Kampf nachlasse, um<br />

zwischen den beiden Bergen hindurchzuschlüpfen, umgarnt den Jüngling ein<br />

verzauberter und einschläfernder Duft, er gleitet aus dem Sattel, legt sich ins<br />

Gras und lässt sich vom Jenseits, von der Unterwelt schlucken, dem Schwarzen<br />

Traum. Nur noch die umklammerten Zügel verbanden ihn mit dem Diesseits. Und<br />

sein Rappe graste ruhig, und von Zeit zu Zeit erinnerte ihn dieser durch einen<br />

Ruck an sich und an die Welt unter der Sonne, aus welcher der Jüngling entführt<br />

worden war.<br />

In der Finsternis des unterirdischen Jenseits (lies: „die Lagerwelt der<br />

beiden Totalitarismen“, bzw., im vorliegenden Kontext, „die sowjetische<br />

Gefangenschaft“) kann der Jüngling t<strong>ro</strong>tzdem die schwarze Silhouette eines<br />

Riesen erkennen, der auf seinen immensen Schultern das Zelt des Schwarzen<br />

Traumes trägt, allerdings erkennt er nichts von dem, was oberhalb des Halses<br />

des Giganten liegt, da dessen Haupt sich drüben, in der Welt des Lichts befindet.<br />

Aber er besitzt nicht bloß ein Haupt, sondern deren zwei, die beiden Bergspitzen<br />

eben, derer er voller Furcht oben ansichtig geworden war, wie sie in verbissener<br />

Wut Stirn an Stirn stießen.<br />

Desgleichen hört er in seiner Nacht das Klagelied der endlosen Konvois<br />

mit den gefangenen Schatten all derer, die gleich ihm einst im Morgengrauen<br />

aufgeb<strong>ro</strong>chen waren, um die namenlose Schöne aus dem Zauber des Schlafes<br />

zu wecken, in dessen Falle sie dann der Reihe nach selber gingen. Sie träumen<br />

alle den gleichen Traum, sind Sklaven für die Ewigkeit im Land des Schwarzen<br />

Traumes, die Augenblicke, Tage, Jahre und Jahrhunderte gehen unmerklich an<br />

ihnen vorbei. Sie leben in einer kontinuierlichen Gegenwart des Leidens,<br />

außerhalb des Lebens und ohne jede Hoffnung auf Erlösung.<br />

Da ereignet sich in einem unerwarteten Moment die rettende Katast<strong>ro</strong>phe.<br />

Die beiden Häupter sind mit solcher Wucht aufeinander gestoßen, dass sie beide<br />

gleichzeitig zerschmettern. Der nun enthauptete Riese bricht ganz zusammen<br />

und mit ihm wie beim Weltuntergang das ganze Zelt des Schwarzen Traumes.<br />

Als der Jüngling aufwachte, wollte er seinen Rappen suchen, aber er fand<br />

nur noch die <strong>ro</strong>stigen Zügel, einen leeren Pferdeschädel und einen Haufen<br />

wettergebleichte Knochen. „Sollte ich denn so lange geschlafen haben?“,<br />

wunderte er sich. Dann blickte er um sich und sah die Überreste der beiden<br />

Zwillingsschädel des Riesen, daraufhin blickte er zum schlafenden Wald, aus<br />

dem sich strahlend der Palast der Prinzessin erhob. Wie ein Schlafwandler bricht<br />

er dahin auf. Betritt ihn, durchquert die Säle voller schlafender Höflinge und bleibt<br />

stumm vor Bewunderung vor dem Bett der schönen Schlafenden stehen. Sie war<br />

genau so, wie sie ihm im Traume erschienen war. Er nähert sich ihr, um den aus<br />

dem Zauber befreienden Kuss auf ihre Lippen zu drücken, aber genau in dem<br />

Augenblick bleibt sein Blick im Spiegel über dem Bett hängen.<br />

Mit Schrecken sah er, wie er dastand: alt, mit zerfurchtem Antlitz, mit Bart<br />

und ergrauten Haaren.<br />

„Da ich aufbrach, war ich ein Kind / Kaum dass ich Bartflaum besaß / Und<br />

erwachte plötzlich gealtert? / Lebte ich denn wirklich? / Oder verlor ich mich in<br />

Träumen?“<br />

Da tauchte aus den Wassern des Spiegels das rächende Antlitz der Zeit auf und<br />

forderte ihn heraus:

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