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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 463<br />

„Wo sind deine heißen Lippen, / Die sie erwecken sollten? / Verwelkt sind<br />

sie im Leid.“<br />

Verzweiflung erfasste ihn, als er gewahr wurde, dass seine<br />

Lebensaufgabe zunichte war.<br />

„Könnt’ ich doch aufreißen die Brust / Und mein entleertes Herz / Und aus<br />

den verbliebenen Tagen / Wie Balsam zu sammeln / Einen T<strong>ro</strong>pfen<br />

Lebenswasser!“<br />

In dem Moment aber ereignet sich an der Grenze zur höchsten Erwartung<br />

das Wunder:<br />

„Aus all den Unglücksjahren, / Aus all dem Leid des Lebens / Gerann ihm<br />

eine Feuerträne, / Die auf ihr Antlitz fiel.“<br />

„Ein Wunder!... Ihr kalkweißes Antlitz / Schien sich zu beleben. / Voller<br />

Gnade sp<strong>ro</strong>ssen alle Knospen, / Draußen alle Toten auferstanden. / Und im<br />

Spiegel verblich sie, die Zeit.“<br />

Da sie aus ihrem langen Schlaf erwachte, fragte verwundert die Schöne:<br />

„Was war das für eine Träne, die mich netzte? / Von welch selt’nem Opfer rührt<br />

sie denn? / Aus welchem Schmerz wurd’ sie geboren, / Da sie, wärmer noch als<br />

jeder Kuss, / Mich zurück ins Leben holte?“<br />

Sie möchte jenen kennen lernen, der sie Kraft seiner Träne erlöst hat,<br />

doch dieser verschwindet.<br />

„Wer weinte denn für uns? / Wo ist er denn, wie sieht er aus? / Doch ohne<br />

zurückzublicken, / Verschwand er wie ein Gespenst / In die weite, weite Welt.“<br />

Dies war die von mir erfundene Variante des bekannten Märchens. Eine<br />

Variante, in der Dornröschen nicht von einem Kuss, sondern von einer Träne<br />

erweckt wird; nicht durch die Tapferkeit (sei es eines Prince Charmant, sei es<br />

eines unserer Märchenprinzen 180 , siegreich und bejubelt), sondern durch Leid.<br />

Nämlich durch das Leid der Vielen und Gewöhnlichen, die ein reines Herz haben<br />

und anonym die Erweckung Dornröschens – als Paradigma der Erweckung der<br />

eingeschlafenen Seele der Welt – zu ihrem Lebenssinn machen.<br />

Das Poem, das durch das dunkle Land des Schwarzen Traumes führte,<br />

wurde von meinen Reisegenossen mit Wärme aufgenommen. Vielleicht haben<br />

viele von ihnen sich in meinem Helden wieder erkannt, im Jüngling, der seine<br />

Jugend verlor. Geht es denn nicht auch in Radu Gyrs 181 Zeile „Wir hatten keine<br />

Jugend“ um das gleiche Schicksal? Das Schicksal einer Generation ohne<br />

Jugend, „géneration de sacrifice sans f<strong>ro</strong>ntières“.<br />

Weil es gefiel, konnte das Poem gerettet werden. Obwohl es recht lang ist<br />

(ca. 90 St<strong>ro</strong>phen), gelangte es nach Hause im Gedächtnis einiger Freunde,<br />

welche, da sie es schätzten, Teile daraus auswendig gelernt hatten. In der<br />

Heimat dann, in einem Transitlager, rekonstruierte ich es mit der Geduld eines<br />

Paläontologen aus den auf diese Weise wieder gewonnenen Bestandteilen.<br />

Die Geschichte des Poems endet aber damit nicht. Als ich aus diesem<br />

Lager in die so genannte Freiheit entlassen wurde, baten mich einige meiner<br />

ehemaligen Kollegen aus dem Land des Schwarzen Traumes, es ihnen<br />

180 Der Autor bezieht sich hier auf F!t-Frumos, den Helden /Prinzen in den rumänischen Volksmärchen.<br />

181 Radu Gyr (1905-1975) ist ein umstrittener rumänischer Dichter (er war Mitglied der Eisernen Garde und<br />

saß deswegen sowohl unter König Ca<strong>ro</strong>l II, als auch unter Marschall Antonescu und dann unter den<br />

Kommunisten im Gefängnis), der vor allem durch seine „Haftgedichte“ berühmt wurde.

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