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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 499<br />

fand ich mich plötzlich in der Zange eines unlösbaren Dilemmas wieder:<br />

einerseits verspürte ich den unwiderstehlichen, herzzerreißenden Wunsch,<br />

heimzukehren in meine Welt von einst, andererseits einen furchtbaren<br />

Schrecken, wie ich diese denn vorfinden würde: zertrümmert und mit Füßen<br />

getreten oder von schmierigen Komp<strong>ro</strong>missen beschmutzt? Und in diesem<br />

meinem Lande, das von fremden Truppen besetzt unter einem Regime mit auf<br />

den Kopf gestellten Werten stand, was hatte ich denn da, so wie ich von hier<br />

ankam, als Verbannter und mit einem Brandmal so g<strong>ro</strong>ß wie mein Kopf auf dem<br />

Rücken, für Überlebenschancen – als Mensch, versteht sich, und nicht als<br />

Kriechtier? Ja, all diese Fragen bestürmten meinen Geist, und all dies nur wegen<br />

Hauptmann Lungu und den Reisep<strong>ro</strong>viantrationen, die im Lebensmittellager<br />

vorbereitet wurden. Klare Sache, der Schlaf wollte meine Lider nicht mehr<br />

schließen, auch wenn bereits das Morgengrauen nahte. Um mich nicht mehr<br />

unnötig zu quälen, stieg ich aus dem Bett und setzte mich an den Tisch. Auf<br />

diesen fiel das trübe Licht einer schmutzigen Glühbirne. Mechanisch streckte ich<br />

die Hand nach den paar Büchern aus, die darauf lagen, entschlossen, meine<br />

Schlaflosigkeit durch Lesen zu kompensieren, und in die Hand fiel mir das Neue<br />

Testament. Ich öffnete es, wo der Zufall es wollte, und mein Blick fiel auf eine<br />

unterstrichene Passage. Es war eine Stelle aus der Apostelgeschichte. Paulus,<br />

am Vorabend seines fatalen Aufbruchs nach Jerusalem, sprach zu seinen<br />

Schülern: „Und nun siehe, im Geiste gebunden fahre ich hin nach Jerusalem,<br />

weiß nicht, was mir daselbst begegnen wird, nur daß der heilige Geist in allen<br />

Städten mir bezeugt und spricht, Gefängnis und Trübsale warten mein.“<br />

Am Tag darauf hörten wir nach der Zählung das gleiche Lied, das wir<br />

bereits in so manchem Lager gehört hatten, bloß dass wir es diesmal aus dem<br />

Munde des „<strong>ro</strong>ten Menschen“ hörten: „Wer seinen Namen hört, sagt «Hier!! und<br />

nennt sein Geburtsjahr. Dann geht er in den Schlafsaal, holt sein Gepäck und<br />

kommt damit zum Tor!“ Dann begann er, die Liste vorzulesen: erst die Soldaten,<br />

dann uns, die Offiziere. Schließlich waren wir alle aufgerufen worden. Also<br />

verließen alle Rumänen das Lager. Aber wohin?... Interessant war aber dazu,<br />

dass auch alle sowjetischen Verwaltungsdienste aufgelöst wurden. Dies<br />

bedeutete praktisch die Auflösung des Lagers. Das war aber auch Zeit! Es war ja<br />

anach<strong>ro</strong>nistisch geworden. Schließlich waren fünfeinhalb Jahre verstrichen seit<br />

dem Abschluss des Friedensvertrags von Paris (mit jenem berühmten<br />

Repatriierungstermin für die rumänischen Gefangenen „kak moschna skerej“, so<br />

schnell wie möglich, eine lausige Rechtsformulierung!!!, deren Interpretierung<br />

dem Gutdünken des Siegers überlassen worden war, was unsere<br />

Gefangenschaft um weitere viereinhalb Jahre verlängerte).<br />

Was uns Maler von rührend-kitschigen Werken betrifft, mit denen wir die<br />

Sehnsucht nach Schönheit gestillt, aber auch an die Vergangenheit so vieler<br />

demütiger Deklassierter aus der alten Gesellschaft erinnert hatten, so teilten wir<br />

die Gemälde, die wir nicht an den Mann gebracht hatten, g<strong>ro</strong>ßzügig an die<br />

einfachen Leute auf, an die Natschalniks, die Schwestern, an die<br />

Lagerangestellten, an Russen und Ukrainer –dies zu ihrer g<strong>ro</strong>ßen Freude und<br />

zur Erinnerung an unser Verweilen an dieser Stätte. Dann sammelten wir rasch<br />

unsere ärmlichen Habseligkeiten, Pinsel und Farben ein und eilten zum Tor.

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