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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 91<br />

Gedichte rezitiert (von Eminescu 49 bis Vasile Militaru 50 ), und all diese Vorträge<br />

schafften es, die Aufmerksamkeit und das Interesse des ganzen Waggons in<br />

ihren Bann zu ziehen. Sie wurden voller Ungeduld erwartet. Und auch die<br />

Beziehungen zwischen den Menschen waren irgendwie milder geworden. Die<br />

Nerven sprühten nicht mehr bei der kleinsten Berührung Funken. Man hörte<br />

endlich auch wieder ein „Entschuldigung“ oder „Macht nichts“, was, angesichts<br />

des gleichen Zustands der „Enge“, welche stets nervöse Spannungen mit sich<br />

bringt, immerhin ein erfreuliches Zeichen für die Normalisierung unseres<br />

menschlichen Miteinanders war. Es gelang uns, durch Anstrengungen<br />

gegenseitiger Gewogenheit und Höflichkeit unsere Nerven unter Kont<strong>ro</strong>lle zu<br />

halten. Ich glaube nicht, dass ich übertreibe, wenn ich behaupte, dass die<br />

Verbesserung dieser Beziehungen zueinander der Tatsache zu verdanken ist,<br />

dass wir es in dieser desolaten geistigen Leere, in die uns die höllischen<br />

Lebensbedingungen gestoßen hatten, t<strong>ro</strong>tzdem geschafft hatten, über unseren<br />

Häuptern, wenn auch in noch so elementarer Weise, einen Schimmer geistigen<br />

Lebens aufrechtzuerhalten. Das gemeinsame Erleben etwa eines begnadeten<br />

Verses von Eminescu bringt nähert und verbrüdert miteinander die Seelen der<br />

Zuhörer gleich einem Abendmahl, und nach dessen Entgegennahme finden die<br />

Menschen sich in einer neuen, unerwarteten Beziehung zueinander wieder. Sie<br />

beginnen, sich mit anderen Augen zu sehen, sogar mit gewisser Sympathie. Auf<br />

jeden Fall werden sie eine Zeit lang nicht mehr zu den Feindlichkeiten und<br />

verbalen Gewalt von vorher zurückkehren. Und da war noch was. Weder in der<br />

zweiten Nacht der Durchführung dieser „Therapeutik der Fiktion“, noch in der<br />

dritten und in keiner anderen bis ans Ende dieser unheimlichen Reise starb<br />

mehr jemand.<br />

Am meisten verwirrte jedoch dieses Phänomen den Konvoileiter, der uns<br />

jeden Morgen zählte und der sich den so schwachen Beitrag unseres Waggons<br />

zur Sterberate des gesamten Transportes nicht erklären konnte. Zu einem<br />

gewissen Zeitpunkt glaubte er, wir versteckten die Toten, um ihre<br />

Essensrationen zu bekommen, weswegen er manch einen Gefangenen, dessen<br />

Schlaf ihm suspekt schien, prüfend am Bein zerrte.<br />

„Sag ihm“, baten wir den Dolmetscher, „dass wir so beschäftigt sind, dass<br />

uns keine Zeit mehr zum Sterben übrig bleibt; und dass keiner mehr sterben<br />

wird, solange sich unter uns ein Erzähler befindet.“<br />

Unmerklich stellten wir fest, dass wir mit unseren Geschichten den Tod<br />

exorzisiert hatten.<br />

49 Mihai Eminescu (1850-1889), rumänischer Nationaldichter.<br />

50 1886-1959. Ein heutzutage eher vergessener Dichter.

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