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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 532<br />

Ich verharrte lange vor dem Tor, sammelte all meine Willensressourcen,<br />

um nicht von Ergriffenheit überwältigt zu werden. Ich musste unbedingt, egal,<br />

was passierte, jener warmen Flut widerstehen, die mächtig aus der Tiefe<br />

aufstieg, beim Knoten im Hals Halt machte, um dann zum Augenlicht zu streben.<br />

„Keine einzige Träne! Pas des larmes! Du bist doch Soldat und nicht ein Weib.“<br />

Schließlich und endlich trat ich ein, stieg die Treppen zur Terrasse hinauf<br />

und als ich auf den Klingelknopf drücken wollte, ging plötzlich die Tür auf, als<br />

habe dahinter jemand gelauert und… nein, das konnte nicht möglich sein. Wie?<br />

Dies leicht gebeugte, scheinbar kleiner gewordene, schwächliche, weißhaarige<br />

Mütterchen mit einem Hauch Tränennass an den Wimpern sollte meine Mutter<br />

sein?<br />

Ich verglich sie mit der, die ich beim Abschied zurückgelassen hatte: eine<br />

kräftige, aufrechte, entschiedene, selbstbewusste Frau… In ihrer jetzigen<br />

Erscheinung hatte ich die Vision des Zusammenbruchs unter den schrecklichen<br />

Schlägen des Jahrhunderts und der unbarmherzigen Geschichte unserer<br />

gesamten Welt von einst. Ich zog sie fest an meine Brust, umarmte sie lange,<br />

aber die Träne, die am Knoten in meinem Hals vorbei dringen wollte, konnte ich<br />

rechtzeitig zurückhalten.<br />

„Lang warst du weg, Junge! Unmenschlich lange“, sagte sie zu mir, sah<br />

mich lange an und wischte sich die Augen. „Nun aber, wo ich dich sehe, bin ich<br />

glücklich.“<br />

„Ja, liebe Mama“, antwortete ich und betrachtete ihre schneeweißen<br />

Haare. „Es ist genau so, wie es bei einem Dichter heißt: Ankommt das von<br />

Schmerz gebleichte Glück.“<br />

Als ich mich wendete, um den Rucksack so schwer wie die gesamte<br />

Gefangenschaft vom Rücken zu nehmen, glitt mein Blick zum venezianischen<br />

Spiegel im Vorraum. Es war nach so vielen Jahren meine erste Begegnung mit<br />

einem wahren Spiegel. Ob er denn noch in seinen tiefen Wassern mein Antlitz<br />

von damals, vor dem Weggang, aufbewahrte? Es war meine erste Begegnung<br />

mit meinem jetzigen Antlitz. Ich betrachtete mich lange, zwang mich dazu, mich<br />

darin zu erkennen, und plötzlich klangen in meinen Ohren die Verse aus meinem<br />

Poem Das Kind und die Zeit: Ich war ein Kind, als ich ging, / Noch ohne jedes<br />

Barthaar, /Und wachte plötzlich alt auf. / Hab’ ich denn gelebt, fürwahr? / Oder<br />

mich in Träumen verloren? Tatsächlich war dies mein P<strong>ro</strong>blem, mein wahres<br />

P<strong>ro</strong>blem: Hab’ ich denn all diese Jahre über wirklich gelebt, oder war alles nichts<br />

als ein Alptraum? Ein Alptraum, an dessen Grund ich meine Jugend gelassen<br />

habe.<br />

In das Schweigen hinein, welches diese Begegnung mit dem Spiegel<br />

begleitete, wollte Mutter mir etwas sagen.<br />

„Weißt du“, begann sie verlegen, „dass…“<br />

„Ich weiß“, unterbrach ich sie unhöflich. „Du willst mir sagen, dass meine<br />

Frau mich verlassen und neu geheiratet hat. Ich habe dies bereits seit langem<br />

gewusst und mich seit langem schon damit abgefunden. Gott gebe ihr Glück,<br />

und mir möge er verzeihen, dass ich für so viele Jahre ihr Leben vermasselt<br />

habe!“<br />

„Aber woher wusstest du es denn, ich habe dir ja nichts davon<br />

geschrieben?“

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