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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 425<br />

drachenähnlich aufgerissene Maul des Hässlichen, in das uns das Nichts sog,<br />

unentwegt mit Büchern, mit Heften usw. gestopft wurde. Wir hatten keine Zeit<br />

mehr, uns zu langweilen.<br />

Was mich betrifft, der ich immer schon ein Theaterliebhaber war, ich<br />

übersetzte Abend für Abend für einen engen Kreis von Zuhörern aus dem<br />

Deutschen ein Stück von Shakespeare, und nachdem dieses zu Ende war, ging<br />

ich zu Schiller, Goethe, Ibsen oder Hauptmann über.<br />

Nun, da ich an jene Zeiten denke, kann ich nicht die musikalischen<br />

Schauspiele von hoher Qualität übersehen, welche die Deutschen boten, was sie<br />

natürlich anlässlich der g<strong>ro</strong>ßen Feiertage aus dem sowjetischen Kalender taten<br />

(sonst hätten sie die Erlaubnis dafür nicht bekommen). Die Musikstücke waren<br />

sei es Kammermusikquartette (Haydn, Mozart, Schubert, Tschaikowski), sei es<br />

Ouvertüren, symphonische Fragmente, vor allem aber Opernarien mit<br />

Orchesterbegleitung, an denen Ehrenteilnehmer stets auch unser berühmter<br />

Bariton Nicolae R\doi war, der mit seiner p<strong>ro</strong>fimäßigen Stimme jedes Mal den<br />

Saal von den Sitzen riss.<br />

Eines Tages aber passierte ihm Folgendes. Kapriziert wie jeder Star, hatte<br />

er sich aus irgendeiner Meinungsverschiedenheit mit dem Dirigent des<br />

Orchesters überworfen, der auch ein guter deutscher Musiker war, aber auch<br />

nicht minder stolz. Und dieser rächte sich. Im zweiten Teil eines Konzertes, das<br />

mit der berühmten Arie des Toreadors aus Bizets Carmen, mit unserem Bariton<br />

als Solist, beginnen sollte, veranlasste der Dirigent das mit ihm unter einer Decke<br />

steckende, exklusive aus Streichinstrumenten bestehende Orchester, einander<br />

eine Achtelnote höher einzustimmen, was für das Orchester keine besondere<br />

Anstrengung mit sich bringt, für den Sänger jedoch, dessen stimmlichen<br />

Möglichkeiten kaum die obersten Noten seiner Partitur erreichen, kann dies fatal<br />

sein. Bereits nach der ersten Phrasierung merkte ich, dass etwas nicht in<br />

Ordnung war, spürte ich doch, mit welcher Anstrengung er die hohen Noten<br />

attackierte. Ich verfolgte ihn Satz für Satz mit klopfendem Herzen, ahnte die<br />

Katast<strong>ro</strong>phe voraus, die eintreten würde, wenn die finale Note, ein hohes G, die<br />

obere Grenze des Baritonregisters, an die Reihe kommen sollte. Nun gut, zu<br />

meiner Verwunderung wurde dieses hohe G (plus eine Achtelnote) weder<br />

herausgeschrieen, noch herausgewürgt, sondern es ergoss sich in einem Laut<br />

von unvorstellbarer Klarheit und Klangfülle. Das Publikum explodierte fast vor<br />

tosendem Beifall, der nicht mehr aufhörte. Das, was ihm Pfiffe aus dem Saal<br />

bringen sollte, war dank der auße<strong>ro</strong>rdentlichen angeborenen Fähigkeiten seiner<br />

Stimme zum Triumph geworden. Als ich ihn umarmte, flüsterte er mir zu: „Der<br />

Schuft! Er hat das Orchester mit einer Achtelnote höher eingestimmt, um mich<br />

aufs Glatteis zu führen. Aber nicht mit mir!“

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