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Handbuch-zur-Befreiung

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342 KOMM HEIM! – KOMM HEIM INS REICH!<br />

ner’.<br />

Mit der Pubertät sind die Jungen vollends sich selbst überlassen. Mit der Pubertät<br />

beginnt die Phase des ‚delikanli’, die Zeit des ‚verrückten Blutes’, wie man auf<br />

Türkisch sagt. Die Jungen sind unbeherrscht und unkontrollierbar, aber bei diesen<br />

Verrücktheiten, bei Schlägereien, Raufereien, Anbrüllen und sexistischen Beleidigungen,<br />

die in diesem Alter vorkommen, muß man eben ein Auge zudrücken,<br />

meinen die meisten Erwachsenen. Dieses Prinzip der Nichterziehung zieht sich<br />

durch alle Lebensphasen der muslimischen Jungen. Niemand setzt sich mit ihnen<br />

auseinander, sondern die Zeit des ‚delikanli’ wird wie ein Regenguß oder ein Fieber<br />

ertragen und ihr Ende abgewartet. Um ein ganzer Mann zu werden, um später<br />

über die eigene Sippe herrschen zu können, muß der Junge ‚da durch’. Man läßt<br />

ihn gewähren, solange der Vater durch die Taten des Sohnes nicht an ‚Ansehen’<br />

verliert. Erst wenn Beschwerden von Lehrern, von Nachbarn oder von der Polizei<br />

kommen, muß der Sohn mit Bestrafung rechnen, denn er hat das ‚Ansehen’ der<br />

Familie beschädigt – nicht durch die Tat, sondern weil er dabei erwischt wurde.<br />

Obwohl die Väter streng darauf achten, daß über ihre Familie nichts Nachteiliges<br />

gesprochen wird, so gilt doch gleichzeitig, daß es die Gemeinde nichts angeht,<br />

was in ihren Familien passiert. Zum Machterhalt gehört das große Schweigen: So<br />

wie die muslimische Gemeinde die Einmischung Außenstehender nicht akzeptiert<br />

und einen Ring des Schweigens um die Umma zieht, so verhüllt auch die Familie<br />

die Geschehnisse im eigenen Haus mit dem Mantel des Schweigens, und so versucht<br />

jedes Familienmitglied möglichst sein eigenes Geheimnis zu wahren. Der<br />

Vertreter eines Berliner Moscheevereins erzählte mir von dem vergeblichen Versuch,<br />

eine Beratung durch türkische Sozialarbeiter in der Moschee zu organisieren.<br />

Nur wenige hätten das Angebot angenommen, weil sie einem Türken gegenüber<br />

nicht zugeben wollten, Probleme zu haben, auch aus Furcht, ihr Problem<br />

könnte womöglich in der ganzen Gemeinde bekannt werden. Verfehlungen bringen<br />

Schande und Gesichtsverlust mit sich, Fehler werden bestraft oder mit Ausgrenzung<br />

geahndet – da wird keiner ein anderes als ein beschönigendes Bild von sich<br />

zulassen, Probleme werden daher oft unter den Teppich gekehrt, denn Ehrverlust<br />

bedeutet Machtverlust.<br />

Es ist ein düsteres Bild, das ich von dieser Art der türkischmuslimischen Erziehung<br />

zeichnen muß. Es ist eine schwarze Pädagogik, nach der muslimische Jungen<br />

erzogen werden, eine Pädagogik, die die Väter schon von ihren Vätern erfahren<br />

haben und die sie an ihre Söhne weiterreichen. Nach einer Untersuchung des<br />

Kriminologischen Instituts Niedersachsen aus dem Jahr 2000 wird ein Drittel der<br />

türkischen Kinder in Deutschland zu Hause mißhandelt, jedes zehnte sogar<br />

schwer gezüchtigt. Die Lebensgeschichten, die ich im Gefängnis gehört habe, erzählen<br />

von Vätern, die ihre Söhne mit dem Stock oder mit einem Kabelende schlagen,<br />

sie mit Draht an den Tisch fesseln oder ihnen heißes Öl über die Hand gießen<br />

– alles Vergeltungsmaßnahmen für verweigerten Gehorsam oder nicht gezollten<br />

Respekt. Und Gewalt erzeugt Gewalt: Eine 2003 vom Innenministerium veröffentlichte<br />

Studie von Katrin Brettfeld und Peter Wetzeis über Junge Muslime in<br />

Deutschland kommt zu der Feststellung, ‚daß es einen deutlichen Zusammenhang

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