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Handbuch-zur-Befreiung

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DIE DEMOKRATIE ALS GARANT DES KAPITALISMUS 507<br />

mag uns eine Welt des Wohlstands und des Fortschritts (Fortschritt wohin?!) vorgaukeln,<br />

die gesellschaftlichen Realitäten deuten eher auf eine anorganisch gewordene,<br />

entseelte Welt, die wie ein Automat Strukturen unterworfen ist, die dem Räderwerk<br />

einer anonymen Mechanik entsprungen zu sein scheint. 845 Aber kulturlose Völker<br />

sind tote Völker: „Nimmt man einer Nation ihre Kultur, bringt man sie um ihr Gedächtnis<br />

und ihre Eigenheit“, stellt der tschechische Schriftsteller Milan KUNDERA<br />

fest, „so verurteilt man sie zum Tode. Das mag zwar ein langfristiger Prozeß sein,<br />

doch wird er dadurch nicht weniger tödlich. ... Kultur, das ist das Gedächtnis des<br />

Volkes, das kollektive Bewußtsein von einer geschichtlichen Fortdauer.“ 846 Was<br />

übrig bleibt, ist ein bloßer Standort, ein Wirtschafts- oder Investitionsstandort mit<br />

einer internationalen Primitivgesellschaft.<br />

Die Grundsatzfrage, die wir uns gestern angesichts des Marxismus stellten, und<br />

der wir heute in Bezug auf das gegenwärtige liberalkapitalistische System, dem<br />

„Judäochristentum“ mit dem „American way of life“, gegenüberstehen, läßt sich<br />

demnach folgendermaßen ausdrücken: Ist eine universale Ideologie überhaupt möglich?<br />

Daß sie mit Sicherheit nicht menschlich ist, bedarf dabei kaum einer Überlegung,<br />

denn die weltweite Durchsetzung einer Ideologie setzt die Einschränkung der<br />

Menschheit auf eine einzige Denkweise voraus. Das heißt allerdings, daß keine<br />

Grundunterschiede zwischen den Menschen mehr bestehen, keine Grunddenkweisen<br />

bei den einzelnen Kulturen, keine Grundkulturen bei den einzelnen Völkern. Oder<br />

anders ausgedrückt: Man kann einer Ideologie erst zum totalen Sieg verhelfen, wenn<br />

die Menschheit aufhört, ein Zusammenspiel von Persönlichkeiten, Völkern, Kulturen<br />

und Denkweisen zu sein – wenn die Menschheit zum schwammigen Sumpf einer<br />

Masse wird. Da es aber auf dieser Welt kein kulturelles Bezugssystem für die gesamte<br />

Menschheit gibt, ist ein solches Vorhaben unmöglich. Der Versuch, die nationalen<br />

Kultursysteme zu Zerstören und durch eine internationale Zivilisation zu ersetzen, ist<br />

zum Scheitern verurteilt, denn die Kulturen sind die Seelen der Völker.<br />

845 Vgl. „Die Seele im technischen Zeitalter – Sozialpsychologische Probleme in der Industriegesellschaft“,<br />

Rowohlt, Hamburg 1976 sowie „Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt“, Athenaion,<br />

Wiesbaden 1978<br />

846 Milian Kundera, in Le Monde, 19.01.1979

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