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Handbuch-zur-Befreiung

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BEGRIFFSDEFINITIONEN UND ERLÄUTERUNGEN 405<br />

bisher vom jeweiligen Individuum gemachten Erfahrungen basieren. Da die allermeisten<br />

dieser Sequenzen der Erfahrung aller Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft<br />

entsprechen, bilden die Handlungsneurone einen gemeinsamen intersubjektiven<br />

Handlungs- und Bedeutungsraum. 671<br />

Denkt man bspw. an das Schwarmverhalten von Fischen oder Vögeln sowie an<br />

bestimmte rassen- oder artspezifische Balzverhaltensweisen, ist ersichtlich, daß<br />

angeborene, also genetisch programmierte Handlungsneurone ebenfalls einen gewissen<br />

Anteil an den intersubjektiven Handlungs- und Bedeutungsräumen haben. Noch<br />

deutlicher wird dies im unterschiedlichen Verhalten von bestimmten Hunderassen.<br />

Ein Altdeutscher Hütehund treibt und hält instinktiv die Schafsherde zusammen;<br />

einem Jagdhund, wie dem Deutschkurzhaar, ist ein sehr ausgeprägter Jagdtrieb, das<br />

Stöbern und Vorstehen „angewölft“. Ein Begleithund, wie der Dobermann, fühlt sich<br />

in der Nähe seines Herrschens am wohlsten, ein Hofhund, wie der Großspitz, braucht<br />

einen festen Bereich, sein Revier, um sich wohl zu fühlen. Der genetische Anteil von<br />

subjektiven Handlungs- und Bedeutungsräumen ist bei Menschen allerdings noch<br />

nicht systematisch untersucht worden. Sicher ist aber, daß dieser Anteil im Kindesund<br />

Jugendalter wenig in Erscheinung, mit zunehmendem Alter aber immer mehr in<br />

den Vordergrund tritt.<br />

Professor Wolf SINGER, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, beschreibt,<br />

daß die Willensfreiheit des Menschen relativ ist, und sowohl von der genetischen<br />

als auch von einer direkten umweltbedingten Programmierung abhängt: „Entscheidungen<br />

sind das Ergebnis von Abwägungsprozessen, an denen jeweils eine<br />

Vielzahl unbewußter und bewußter Motive mitwirken. ...“ Und wie das Wissen als<br />

Entscheidungsgrundlage in den Kopf kommt, beschreibt SINGER folgendermaßen:<br />

„Alles Wissen, über das ein Gehirn verfügt, residiert in seiner funktionellen Architektur,<br />

in der spezifischen Verschaltung der vielen Milliarden Nervenzellen. Zu<br />

diesem Wissen zählt nicht nur, was über die Bedingungen der Welt gewußt wird,<br />

sondern auch das Regelwerk, nach dem dieses Wissen <strong>zur</strong> Strukturierung unserer<br />

Wahrnehmungen, Denkvorgänge, Entscheidungen und Handlungen verwertet<br />

wird. Dabei unterscheiden wir angeborenes und durch Erfahrung erworbenes<br />

Wissen. Ersteres wurde während der Evolution durch Versuch und Irrtum erworben,<br />

liegt in den Genen gespeichert und drückt sich jeweils erneut in der genetisch<br />

determinierten Grundverschaltung der Gehirne aus. Das zu Lebzeiten<br />

hinzukommende Wissen führt dann zu Modifikationen dieser angeborenen Verschaltungsoptionen.<br />

Solange die Hirnentwicklung anhält – beim Menschen bis<br />

<strong>zur</strong> Pubertät –, prägen Erziehungs- und Erfahrungsprozesse die strukturelle<br />

Ausformung der Nervennetze innerhalb des genetisch vorgegebenen Gestaltungsraumes.<br />

Später, wenn das Gehirn ausgereift ist, sind solche grundlegenden<br />

Änderungen der Architektur nicht mehr möglich. Alles Lernen beschränkt sich<br />

dann auf die Veränderung der Effizienz der bestehenden Verbindungen. Das seit<br />

Beginn der kulturellen Evolution zusätzlich erworbene Wissen über die Bedingungen<br />

der Welt, das Wissen um soziale Realitäten, findet also seinen Niederschlag in<br />

671 Ebda. S. 31

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