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Psychiatrie und Strafjustiz

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minalität <strong>und</strong> Geisteskrankheit gleichermassen, wenn auch in unterschiedlicher Hinsicht, die Grenzen der<br />

Norm des selbstverantwortlichen <strong>und</strong> selbstbeherrschten Bürgersubjekts.<br />

Das bürgerliche Schuldstrafrecht, das sich auch in den meisten Schweizer Kantonen seit den 1830er Jah-<br />

ren durchzusetzen vermochte, legte insofern die Gr<strong>und</strong>lage für die Entstehung eines forensisch-<br />

psychiatrischen Praxisfelds, als es strafrechtliche Sanktionen an die strafrechtliche Verantwortlichkeit des<br />

Subjekts band. Strafbar war demnach nur, wer für zurechnungsfähig bef<strong>und</strong>en wurde. Parallel zur rechtli-<br />

chen Verankerung der Zurechnungsfähigkeit unterlegte das bürgerliche Strafrecht den herkömmlichen<br />

Definitionen strafrechtlicher Verantwortlichkeit eine Willenssemantik, die aus dem Besitz der «Willens-<br />

freiheit» einen unabdingbaren Bestandteil der Zurechnungsfähigkeit machte. Das Axiom der «Willensfrei-<br />

heit» als «Kernbestandteil bürgerlicher Identität» (Doris Kaufmann) fand dadurch unmittelbar Eingang in<br />

den Strafdiskurs. Mit der Generalisierung des Kriteriums der Zurechnungsfähigkeit schuf das bürgerliche<br />

Strafrecht gleichsam ein Normalitätsdispositiv, das ein Potenzial für eine partielle Medikalisierung krimi-<br />

nellen Verhaltens offen hielt. Während bei der überwiegenden Mehrheit der Gesetzesbrecher die straf-<br />

rechtliche Verantwortlichkeit als Bestandteil der «normalen» bürgerlichen Subjektivität in der Justizpraxis<br />

stillschweigend vorausgesetzt wurde, wurde eine kleine Minderheit von als geisteskrank oder «unfrei» gel-<br />

tenden StraftäterInnen dem Zugriff der <strong>Strafjustiz</strong> entzogen. Bezeichnenderweise waren es vor allem Ärz-<br />

te, die den Anspruch erhoben, solche «unfreie Geisteszustände» diagnostizieren zu können. Bereits das<br />

frühe bürgerliche Strafprozessrecht trug diesen Ansprüchen dadurch Rechnung, dass es die Justizbehör-<br />

den verpflichtete, «zweifelhafte Geisteszustände» durch medizinische Sachverständige abzuklären. Die<br />

Bezugssysteme der Justiz <strong>und</strong> der Medizin wurden dadurch über den Begriff der Zurechnungsfähigkeit<br />

strukturell miteinander gekoppelt.<br />

Die historische Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen, dass diese strukturelle Koppelung das Er-<br />

gebnis bisweilen heftiger juristisch-psychiatrischer Kompetenzkonflikte gewesen ist, die sich über die gan-<br />

ze erste Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts hingezogen haben. 5 Diese Konflikthaftigkeit ist indes nur eine Seite<br />

der Beziehungen zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> Medizin. So lässt sich seit der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong><br />

verstärkt seit den 1880er Jahren europaweit eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Justizbe-<br />

hörden <strong>und</strong> Ärzten feststellen. 6 Neue Perspektiven für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit bot vor<br />

allem die Entstehung der institutionellen <strong>Psychiatrie</strong>. Psychiatrische Deutungsmuster, Behandlungs- <strong>und</strong><br />

Versorgungskonzepte stiessen in der zweiten Jahrh<strong>und</strong>erthälfte auf zunehmende Akzeptanz bei den Jus-<br />

tizbehörden. Den Bedürfnissen der Justizbehörden kam die Ausdifferenzierung einer psychiatrischen<br />

Sachverständigenrolle insofern entgegen, als sie Gewähr für eine routinierte Begutachtungs- <strong>und</strong> Verwah-<br />

rungspraxis bot. Weitere entscheidende Impulse erhielt die entstehende interdisziplinäre Zusammenarbeit<br />

zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> in den 1880er <strong>und</strong> 1890er Jahren durch die internationale Strafrechts-<br />

reformbewegung. Die Forderung nach einer Umgestaltung des geltenden Schuldstrafrecht in ein reines<br />

Massnahmenrecht, wie sie von reformorientierten Kriminalpolitikern erhoben wurde, zielte nicht nur auf<br />

effizientere Formen sozialer Kontrolle mittels neuer institutioneller Zugriffe auf StraftäterInnen, sondern<br />

auch auf neue Modelle der juristisch-psychiatrischen Zusammenarbeit ab. Wenngleich die Strafrechtsre-<br />

former ihre Postulate letztlich nur mit beträchtlichen Abstrichen zu realisieren vermochten, trug die Straf-<br />

rechtsdebatte der Jahrh<strong>und</strong>ertwende doch massgeblich dazu bei, dass sich das traditionelle Konfliktpoten-<br />

zial zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> Medizin zunehmend entschärfte <strong>und</strong> einem Leitbild Platz machte, das von<br />

5 Vgl. Chauvaud, 2000; Greve, 1999; Guarrnieri, 1996; Kaufmann, 1995; Kaluszynski, 1994; Goldstein, 1987; Smith, 1981, Castel,<br />

1979, Castel 1973.<br />

6 Vgl. Lengwiler, 2000, 236; Wetzell, 2000, 79; Hommen, 1999, 275, Fussnote 207.<br />

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