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Psychiatrie und Strafjustiz

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dieser Modifikation des herkömmlichen Schwachsinnskonzepts ergebende Ausweitung des psychiatri-<br />

schen Blickfelds verdeutlichen beispielhaft die Fälle von Christian B. <strong>und</strong> Friedrich S.<br />

Der Schuster <strong>und</strong> Taglöhner Christian B. war 1918 angeschuldigt, das Haus eines Bauern in Langnau, bei<br />

dem er früher verdingt gewesen war, angezündet zu haben. Gegenüber dem Untersuchungsrichter gab er<br />

zunächst an, aus Rache gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber gehandelt zu haben. Dieser habe ihn<br />

schlecht behandelt <strong>und</strong> sogar bestohlen. Vor der Tat sei er aus der Armenanstalt Bärau entwichen, um im<br />

Haus seines früheren Arbeitgebers nach den gestohlenen Sachen zu suchen. Dabei sei er schliesslich auf<br />

der Heubühne eingeschlafen. Um wieder aus dem Haus herauszufinden, habe er ein Zündhölzchen ange-<br />

zündet, das ihm aber heruntergefallen sei <strong>und</strong> so den Brand verursacht habe. Im Gegensatz zu seiner Aus-<br />

sage vor dem Untersuchungsrichter beteuerte Christian B. gegenüber den Sachverständigen, den Brand<br />

nicht absichtlich gelegt zu haben, <strong>und</strong> entwickelte eine ähnliche Rechtfertigungsstrategie wie Jakob R.<br />

Schuld am Brand sei nämlich der geschädigte Bauer selbst. Hätte ihn dieser nicht bestohlen, so hätte er<br />

nicht suchen müssen <strong>und</strong> der Brand wäre nicht entstanden. Die Unterredung der Sachverständigen mit<br />

Christian B. gestaltete sich offenbar schwierig. Wie das Gutachten festhielt, habe dieser, auf seine verschiedenen<br />

Vorstrafen angesprochen, angefangen, «mit den Fäusten in der Luft herumzufuchteln» sowie<br />

zu schimpfen <strong>und</strong> zu drohen. Schliesslich verweigerte sich Christian B., weitere Auskünfte zu geben,<br />

«antwortete dann aber nach einigem Schmollen auf harmlose Fragen doch wieder». Den Psychiatern<br />

machte er durch sein Verhalten jedenfalls den «Eindruck eines affektiv schwachsinnigen, jähzornigen<br />

Menschen». Seine Schulkenntnisse stuften sie «gleich Null» ein. Dies, obwohl Christian B. behauptete, sich<br />

selber durch das Leben bringen zu können <strong>und</strong> früher ein eigenes Schustergeschäft besessen zu haben. 952<br />

Wie Jakob R. bezeichneten die Sachverständigen in ihrem Gutachten auch Christian B. als «angeboren<br />

schwachsinnig». Sein «Schwachsinn» zeige sich «nicht nur in den geringen Schulkenntnissen, im geringen<br />

Interesse für die Mitwelt, den Weltkrieg etc., sondern auch darin dass B. unfähig war, sich dauernd selb-<br />

ständig durchs Leben zu bringen.» Daneben habe er wiederholt «seines zornmütigen <strong>und</strong> zu Gewalttätig-<br />

keiten neigenden Wesens wegen» bestraft werden müssen. Diese letzte Bemerkung bewog die Sachver-<br />

ständigen, über «angeborene Gefühlsreaktionen» bei «Schwachsinnigen» auszuholen: «Die persönliche<br />

Gefühlsreaktion ist etwas Angeborenes, was erklärt, dass auch intellektuell gut entwickelte Menschen,<br />

denen durch die Erziehung nicht beigebracht wurde, Gemütsbewegungen auf verstandesmässigem Wege<br />

bis zu einem gewissen Grade zu beherrschen, auf dem Gebiet der Affektivität kindlich bleiben, launisch,<br />

impulsiv <strong>und</strong> nicht objektiv in der Beurteilung <strong>und</strong> Wertung von Geschehnissen <strong>und</strong> Personen. Diese<br />

Schwäche besteht in noch viel höherem Grade bei Schwachsinnigen, denen die Hemmungen des Verstan-<br />

des über die Affekte erst recht mangeln, dies um so mehr, wenn sie reizbarer, jähzorniger <strong>und</strong> misstraui-<br />

scher Natur sind, wie dies bei B. der Fall war.» 953 Die Norm, an der sich die Psychiater hier orientierten,<br />

sah eine Affektkontrolle durch den Verstand vor, eine Fähigkeit, die sich selbst der von Geburt an intellektuell<br />

intakte Mensch durch Erziehung <strong>und</strong> Bildung anzueignen hatte. Erst dadurch wurde er zu einem<br />

Erwachsenen, der die kindliche Launenhaftigkeit <strong>und</strong> Impulsivität überwand <strong>und</strong> zu einem «objektiven»<br />

Urteil über die Welt befähigt war. Bei «Schwachsinnigen», wie Christian B. in den Augen der Psychiater<br />

einer war, musste eine solche affektive Selbstkontrolle durch den Verstand zwangsläufig an der von Ge-<br />

burt aus ungenügenden Ausstattung scheitern. Dies hatte im Gegenzug zur Folge, dass die «reizbare, jäh-<br />

zornige <strong>und</strong> misstrauische Natur» ungehemmt zum Durchbruch kommen konnte. Über einen Intelli-<br />

genzmangel hinaus signalisierte die Diagnose «Schwachsinn» somit auch eine mangelhafte Selbstbeherr-<br />

952 StAB BB 15.4, Band 2081, Dossier 1772, Psychiatrisches Gutachten über Christian B., 19. Juni 1918.<br />

953 StAB BB 15.4, Band 2081, Dossier 1772, Psychiatrisches Gutachten über Christian B., 19. Juni 1918.<br />

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