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Psychiatrie und Strafjustiz

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men ausgehandelt wird. 21 Ständige Variationen <strong>und</strong> Auslegungen erfahren diese Koppelungsbedingungen<br />

ebenfalls in der Justizpraxis. Diese erhält dadurch den Charakter eines ständigen, wenn auch bezüglich<br />

seiner Kontingenz beschränkten bargaining zwischen beiden Bezugssystemen.<br />

Der Rückgriff auf die Systemtheorie ist allerdings insofern nicht unproblematisch, als Luhmanns Theorie-<br />

gebäude die in der sozialwissenschaftlichen <strong>und</strong> historischen Forschung häufig als selbstverständlich vor-<br />

ausgesetzte Einheit des Akteurs unterläuft. So hat Andreas Reckwitz festgestellt, dass Luhmanns «konzep-<br />

tuelle Auflösung des Akteurs» mit der Problemstellung der aktuellen structure and agency-Debatte kaum<br />

kompatibel sein dürfte. 22 In Frage gestellt ist damit zugleich die Tragfähigkeit eines handlungszentrierten<br />

Praxisbegriffs, wie er in dieser Untersuchung Verwendung findet. In der Tat scheint Luhmanns theoreti-<br />

sche Vorentscheidung, dass nicht Akteurhandeln, sondern Kommunikationsereignisse die Gr<strong>und</strong>elemente<br />

des Sozialen darstellen, die Frage obsolet zu machen, ob sich menschliches Handeln mehr aus den von<br />

den AkteurInnen vorgef<strong>und</strong>enen strukturellen Regelmässigkeiten oder mehr durch die agency der Akteu-<br />

rInnen, das heisst durch die Fähigkeit zur Reproduktion <strong>und</strong> Variation normativer <strong>und</strong> kognitiver Regel-<br />

komplexe im Hinblick auf bestimmte Erwartungshorizonte, erklären lässt. Die vermeintliche Dekonstruktion<br />

des Akteurs in der Systemtheorie läuft somit auf ähnliche Aporien heraus, wie sie aus der Debatte um<br />

Foucaults Diskursbegriff bekannt sind. Von andern Voraussetzungen als Luhmann ausgehend, postuliert<br />

Foucault in seiner «Archäologie des Wissens» die Preisgabe der Vorstellung eines (Autor-)Subjekts, das<br />

autonom über sein Sprechen verfügt, zugunsten eines Konzepts einer anonymen <strong>und</strong> regelhaft strukturier-<br />

ten «Ordnung des Diskurses» <strong>und</strong> wirft damit die – von ihm letztlich nicht schlüssig beantwortete – Frage<br />

nach dem Verhältnis diskursiver <strong>und</strong> nicht-diskursiver Praktiken auf. 23<br />

Philipp Sarasin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass mit dem Foucaultschen Diskursbegriff als «histo-<br />

risch eingrenzbare thematische Redezusammenhänge» mitnichten eine Verengung des historischen Er-<br />

kenntnisinteresses auf die Analyse von Texten verb<strong>und</strong>en sein muss. Nach Sarasin geht es vielmehr dar-<br />

um, die gesellschaftliche (Re-)Produktion von Sinn sowie die damit verb<strong>und</strong>enen Bedingungen <strong>und</strong> Umstände zu<br />

rekonstruieren. 24 Sarasin schliesst hier an die Bestrebungen einer integrativen Kulturgeschichte an, histori-<br />

sche Entwicklungen unter dem Leitbegriff der «Kultur» zu betrachten <strong>und</strong> das «selbstgesponnene Bedeu-<br />

tungsgewebe» (Clifford Geertz) vergangener Epochen zu untersuchen. 25 Wird nun davon ausgegangen,<br />

dass soziales, das heisst kommunikatives Handeln immer mit einer Sinnproduktion verb<strong>und</strong>en ist, erfährt<br />

die von Reckwitz festgestellte Inkompatibilität von Handlungs- <strong>und</strong> Systemtheorie eine wesentliche Rela-<br />

tivierung. Das Operieren sozialer Systemen ist dann nämlich prinzipiell auf der gleichen Ebene der Sinn-<br />

produktion angesiedelt wie das klassische Akteurhandeln. Eine weitere Einschränkung erhält Reckwitzs<br />

Feststellung dadurch, dass Luhmann in seinem Spätwerk selbst den Begriff der «Person» im Sinne eines<br />

sozialen Akteurs wieder in sein Theoriegebäude einführt. «Personen» repräsentieren gemäss Luhmann<br />

Zuschreibungen verschiedener Kommunikationsakte auf ein «psychisches System» durch BeobachterInnen.<br />

«Personen» <strong>und</strong> «AkteurInnen» sind somit Ergebnisse von Zuschreibungsprozessen, die durch das<br />

21 Vgl. Krieger, 1996, 134-136. In Bezug auf die forensisch-psychiatrische Praxis hat Goldstein, 1987, das Konzept des «bo<strong>und</strong>ary<br />

dispute» operationalisiert.<br />

22 Reckwitz, 1997, 68. Zur structure and agency-Debatte in der Sozial- <strong>und</strong> Geschichtswissenschaft: Emirbayer/Mische, 1998;<br />

Welskopp, 1997.<br />

23 Vgl. Foucault, 1991; Foucault, 1973. Zu Foucaults Diskursbegriff siehe die folgenden Auswahl: Landwehr, 2001, 75-89; Bublitz,<br />

1999; Lemke, 1997, 39-53.<br />

24 Sarasin, 1996, 132, 157f.<br />

25 Vgl. zu den Ansätzen einer integrativen Kulturgeschichte: Daniel, 2001; Conrad/Kessel, 1998, sowie die polemische Auseinandersetzung<br />

seitens des führenden Vertreters der Gesellschaftsgeschichte: Wehler, 1998. Zum «Bedeutungsgewebe» unter Verweis<br />

auf Max Webers verstehende Soziologie siehe: Geertz, 1983.<br />

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