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Psychiatrie und Strafjustiz

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Fällen in der Regel nicht bestünden. Sofern solche Kranken Delikte geringerer Tragweite begangen hätten,<br />

sei es sehr wohl möglich, sie in eine «überwachte Freiheit» zu entlassen. In diesem Zusammenhang wies<br />

Ris auf die zunehmende Bedeutung der öffentlichen Fürsorge hin. Wo eine Freilassung nicht angemessen<br />

erscheine, sei die Unterbringung in einer Irrenanstalt vorzusehen. Ris lehnte die Errichtung besonderer<br />

Anstalten für «verbrecherische Geisteskranke» klar ab. Die Erfahrung der Anstaltspraktiker lehre, dass<br />

man diese Gruppe im Prinzip nicht anders behandeln könne <strong>und</strong> solle als die unbescholtenen Anstaltspa-<br />

tienten. Was die Unterbringung «verbrecherischer Geisteskranker» in der Irrenanstalt betraf, wandte sich<br />

Ris kategorisch gegen jede Einmischung von aussen: «Es wird nach wie vor eine rein innere Angelegenheit<br />

der Irrenanstalten bleiben müssen, wie die Behandlung der einzelnen Kranken, kriminell oder nicht, zu<br />

gestalten sei. [...] Der Organismus jeder Irrenanstalt, der kleinen wie der grossen, ist ein ganzes, dessen<br />

einzelne Teile in subtiler Weise ineinander greifen <strong>und</strong> untereinander abhängig sind. [...] Vorschriften ir-<br />

gendwelcher Art, die der unendlichen Mannigfaltigkeit des wirklich Vorkommenden auch nur annähernd<br />

gerecht werden, sind in keiner Form denkbar; so bleibt es das Beste, solche Vorschriften überhaupt nicht<br />

zu erlassen.» 1262 Im Fall einer kleinen Gruppe der «höchsten Gefahrenklasse» befürwortete Ris allerdings<br />

besondere Massnahmen. Bei dieser Gruppe handle es sich jedoch nicht allein um kriminell gewordene,<br />

sondern allgemein um «gefährliche» Geisteskranke, die im regulären Anstaltsbetrieb nur mit Schwierigkei-<br />

ten zu halten seien. Für diese «der Zahl nach unbedeutenden, der Tragweite ihrer Gefährlichkeit aber sehr<br />

wichtige letzte Kategorie» erachtete Ris den Bau von zwei bis drei Annexen an Irrenanstalten, die r<strong>und</strong> 60<br />

bis 70 solche Kranke männlichen <strong>und</strong> weiblichen Geschlechts aus der ganzen Schweiz aufzunehmen hät-<br />

ten, als sinnvoll.<br />

Unter der zweiten Gruppe fasste Ris das «schwierige Gebiet der Grenzfälle» zusammen, das Fälle mit<br />

Diagnosen wie «Schwachsinn», «Epilepsie» oder «Psychopathie» umfasse. DelinquentInnen dieser Gruppe<br />

würden, so Ris, oft als unzurechnungsfähig beurteilt <strong>und</strong> in die Irrenanstalten eingewiesen, obwohl sie<br />

«dem durchschnittlichen Volksempfinden nicht als kranke erscheinen». Gerade zu dieser Gruppe würde<br />

nun aber «ein ganz bedeutender Anteil der Gewohnheitsverbrecher» gehören, der die Irrenanstalten vor<br />

Schwierigkeiten stelle: «Die Gewohnheitsverbrecher, die dem Grenzgebiet angehören, sind in ihrer über-<br />

wiegenden Mehrheit so geartet, dass sie im Organismus der Irrenanstalt Fremdkörper sind <strong>und</strong> bleiben.<br />

Sehr vielen dieser Menschen ist die harte Zucht der Strafanstalten durchaus angemessen, für nicht wenige<br />

ist sie eine Notwendigkeit. In der Irrenanstalt aber kommen sie in eine Umgebung, die ihnen nicht angemessen<br />

ist.» 1263 Diese Fälle sollten nach Ris künftig nicht mehr in die Irrenanstalten, sondern in die von<br />

den Vorentwürfen vorgesehenen Verwahrungsanstalten für Gewohnheitsverbrecher eingewiesen werden.<br />

Diese Anstalten sollte nicht der «ärztlichen Behandlung oder dem Irrenwesen», sondern dem Strafvollzug<br />

zufallen. Ris erklärte damit die seit einiger Zeit gängige Praxis, ausgesprochene «Grenzfälle» den Irrenan-<br />

stalten zuzuweisen, für gescheitert <strong>und</strong> betonte: «Die neue Zeit wird sie [d.h. die Grenzfälle] ausschliess-<br />

lich dem Strafvollzug in der neuen Form der dauernden Verwahrung zuweisen, mit viel besserer Aussicht<br />

auf praktischen Erfolg.» 1264<br />

Das Gutachten von Ris erwies sich in zweierlei Hinsicht als wegweisend für die Behandlung der unter der<br />

Kategorie «verbrecherische Geisteskranke» zusammengefassten Gruppe von DelinquentInnen. Zum einen<br />

trug es die 1906 von den Psychiatern selbst geforderte Spezialanstalt politisch zu Grabe. Das Gutachten<br />

machte klar, dass sich die Unterbringung von «verbrecherischen Geisteskranken» in der Schweiz nach wie<br />

vor auf die Irrenanstalten konzentrieren würde. Die von Ris geforderten Annexe für «gefährliche» Kranke<br />

1262 Expertenkommission, 1912/Beilagenband, 190f.<br />

1263 Expertenkommission, 1912/Beilagenband, 199.<br />

1264 Expertenkommission, 1912/Beilagenband, 200.<br />

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