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Psychiatrie und Strafjustiz

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such unternommen hatte. 798 Ludwig S. wurde dagegen auf Anraten des Gefängnisarztes zur Begutachtung<br />

überwiesen, dem beim Häftling Zeichen von «Geistesgestörtheit» aufgefallen waren. 799 Die Untersu-<br />

chungsbehörden nahmen Selbstmordversuche, Tobsuchtsanfälle oder das Hören von Stimmen in der<br />

Haft in der Regel zum Anlass, auch eine Überprüfung des Geisteszustands zur Tatzeit in Auftrag zu ge-<br />

ben. Die Versetzung in eine Irrenanstalt hatte in solchen Fällen aber auch die Funktion, den Strafvollzug<br />

von «Problemfällen» zu entlasten. Wo die Anordnung eines Gutachtens aufgr<strong>und</strong> des Verhaltens in der<br />

Haft erfolgte, überlagerten sich die Sichtweisen von medizinischen Laien wie Gefängniswärter, Mithäftlin-<br />

ge oder Strafvollzugsbeamte <strong>und</strong> den Gefängnisärzten. Diese wurden bei Verhaltensauffälligkeiten meist<br />

zuerst zu Rate gezogen. Den Begutachtungsbeschlüssen gingen somit auch hier Selektionsprozesse voraus,<br />

in deren Verlauf sich verschiedenen Akteure über die «Normalität» der Angeschuldigten aussprachen.<br />

In zehn der untersuchten Fälle wurden Begutachtungen erst im Stadium der Hauptverhandlung initiiert. Im<br />

Vergleich zu den Begutachtungsaufträgen im Laufe der Voruntersuchung kam hier den Anträgen der Straf-<br />

verteidiger eine grössere Bedeutung zu. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass das Berner Strafverfah-<br />

ren den Angeklagten erst im Hauptverfahren einen amtlichen Verteidiger zugestand. 800 Von den untersuchten<br />

zehn Gutachten, die während der Hauptverhandlung angeordnet wurden, kamen sieben aufgr<strong>und</strong><br />

von Anträgen der (amtlichen) Verteidiger zustande. Fälle, wo solche Anträge der Verteidiger abgelehnt<br />

worden sind, sind bei der Durchsicht der Gerichtsprotokolle keine festgestellt worden. Beispielsweise<br />

verlangte der Verteidiger von Henri F., der 1903 wegen Diebstahls vor Gericht stand, von der<br />

Kriminalkammer die Anordnung eines Gutachtens. Diese gab dem Antrag statt <strong>und</strong> überwies den Fall<br />

zugleich an das Geschworenengericht, da das Gesetz in Fällen, wo die Zurechnungsfähigkeit in Frage<br />

stand, den Zuzug der Geschworenen vorschrieb. In ihrem späteren Urteil billigten die Geschworenen<br />

Henri F. schliesslich eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> mildernde Umstände zu. 801 Auch<br />

die Begutachtung von Gaspard M. wurde von dessen Verteidiger beantragt, der sich auf ein bei den Akten<br />

liegendes Zeugnis eines praktizierenden Arztes stützte, das Gaspard M. als «schwachsinnig» bezeichnet<br />

hatte. Auch hier ordnete das Gericht die Begutachtung an. In der zweiten Verhandlung folgten die Ge-<br />

schworenen dem Antrag des Verteidigers, Gaspard M. für unzurechnungsfähig zu erklären, hingegen<br />

nicht. 802<br />

Die Kriminalkammer, der die Leitung der Hauptverhandlung oblag, war nicht nur bereit, auf die Verteidi-<br />

gungsstrategien der Anwälte einzugehen, sondern machte in einigen Fällen auch von sich aus von der<br />

Kompetenz Gebrauch, ein psychiatrisches Gutachten anzuordnen. Ausschlaggebend waren dabei die eige-<br />

nen Beobachtungen des Gerichts. Christian F., der 1898 wegen versuchter Brandstiftung angeklagt war, wider-<br />

rief in der Hauptverhandlung sein Geständnis. Wie er dem Gericht erklärte, habe er vor dem Untersu-<br />

chungsrichter gestanden, «damit ich wenigstens auch einen Fehler habe. Ich dachte, es könne dann immer<br />

noch sein, wie es solle». Ein Zeuge bestätigte vor Gericht zudem, dass Christian F. an einem «fallenden<br />

Weh» leide. Wie das Protokoll festhält, liessen «das sonderbare Benehmen des Angeklagten Christian F.,<br />

seine seltsamen Antworten auf die an ihn gestellten Fragen, der Widerruf des in der Voruntersuchung<br />

abgelegten Geständnisses, sowie die Tatsache dass derselbe an epileptischen Anfällen leidet» die Kriminal-<br />

kammer vermuten, dass Christian F. geistig nicht ges<strong>und</strong> sei. Sie ordnete deshalb die Begutachtung in<br />

Münsingen <strong>und</strong> die Vertagung des Prozesses an. In der zweiten Verhandlung wurde Christian M. im Ein-<br />

798 UPD, KG 8485, Psychiatrisches Gutachten über Ernst R, 13. Dezember 1919.<br />

799 StAB BB 15.4, Band 2090, Dossier 1820, Schreiben von Dr. Joss an den Untersuchungsrichter von Bern, 25. September 1918;<br />

Schreiben von Dr. Joss an den Untersuchungsrichter von Bern, o.D. [November 1918].<br />

800 StV 1850, Artikel 263.<br />

801 StAB BB 15.4, Band 125, Verhandlung der Kriminalkammer, 17. August 1903; Verhandlung der Assisen, 9. Dezember 1903.<br />

802 StAB BB 15.4, Band 105, Verhandlung der Assisen, 6. Juli 1908; Verhandlung der Assisen, 17. Dezember 1908.<br />

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