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Psychiatrie und Strafjustiz

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acht. Eine 1918 unter der Leitung von Speyrs verfasste Dissertation bedachte die Absonderung «verbre-<br />

cherischer Geisteskranker» sogar mit harscher Kritik: «Die Versetzung eines kriminellen Kranken in ein<br />

besonderes Verwahrungshaus bekäme den Anschein eines Disziplinarmittels. Die Irrenärzte hätten dann<br />

weit weniger Mühe, aber <strong>Psychiatrie</strong> wäre das nicht mehr. [...] Ein solches Verwahrungshaus fordern, hies-<br />

se also eine grosse Anzahl unserer Kranken von vorneherein von den Segnungen der modernen Irrenpfle-<br />

ge ausschliessen. Es wäre ein Rückschritt in der Entwicklung unseres Irrenwesens.» 1250 Die Berner Psychi-<br />

ater verkannten Probleme bei der Unterbringung von «verbrecherischen Geisteskranken» keineswegs,<br />

doch glaubten sie diese mittels der Verteilung auf verschiedene Abteilungen <strong>und</strong> der «Verdünnung» mit<br />

anderen Kranken weitgehend umgehen zu können. Schwierigkeiten, so die Berner Dissertation, würden<br />

lediglich nur «Grenzfälle» bieten, von denen tatsächlich viele «in der Irrenanstalt zu den Schlimmsten ge-<br />

hören». Solche Fälle würden besser in den Strafvollzug als in die Irrenanstalten gehören. Nur für diese<br />

Gruppe seien allenfalls «Zwischenanstalten, unter Umständen im Anschluss an Irrenanstalten, am<br />

Platz». 1251 Gemäss diesen Äusserungen schienen die Berner Anstaltspsychiater kaum akuten Handlungs-<br />

bedarf zu verspüren. Indem sie allerdings die Abschiebung ausgesprochener «Grenzfälle» an den regulären<br />

Strafvollzug diskutierten, folgten sie gleichsam der Tendenz zu einer Demedikalisierung des Massnahmen-<br />

vollzugs, auf die im Folgenden noch zurückzukommen sein wird.<br />

Weitaus intensiver als die Berner beschäftigten sich zur gleichen Zeit die Zürcher Behörden <strong>und</strong> Psychia-<br />

ter mit der Unterbringung «verbrecherischer Geisteskranker». 1910 war im Rechenschaftsbericht des<br />

Burghölzli ein «Notschrei» der Anstaltsleitung über solche Insassen zu lesen: «Zu einer unerträglichen<br />

Kalamität werden die Verbrecher, die uns die Grossstadt in qualitativ <strong>und</strong> quantitativ immer schlimmerem<br />

Mass sendet. Keine Anstalt nimmt uns dieselben ab <strong>und</strong> wenn nicht bald Abhilfe geschehen wird, verder-<br />

ben uns diese Elemente an den Bessern, was zu verderben ist. Eine Charaktererziehung ist zur Zeit auf der<br />

Männerseite kaum mehr möglich.» 1252 Bereits 1909 hatte der Direktor der Rheinau, Friedrich Ris, der Ge-<br />

s<strong>und</strong>heitsdirektion vorgeschlagen, bei der geplanten Erweiterung der Rheinau eine solche «Abhilfe» in<br />

Form einer gesicherten «Abteilung für Geisteskranke mit verbrecherischen Neigungen» zu schaffen. 1253<br />

1912 schickte die Ges<strong>und</strong>heitsdirektion Ris <strong>und</strong> den Zürcher Kantonsbaumeister auf eine Studienreise<br />

nach Deutschland, um sich über die dort vorhandenen Einrichtungen zu informieren. Die beiden Beam-<br />

ten besuchten «Bewahrungshäuser» im Rheinland <strong>und</strong> in Bremen. In einem ausführlichen Bericht fasste<br />

Ris nach der Rückkehr seine Eindrücke zusammen <strong>und</strong> begründete den Bau eines ähnlichen «Bewahrungshauses»<br />

im Kanton Zürich. Nach Ris hatte die Entwicklung der modernen Irrenanstalt, die auf den<br />

Einsatz von Zwangsmittel weitgehend verzichtete, einen paradoxen Effekt: «Es blieb überall ein kleiner<br />

Rest von Kranken übrig, die sich in den umgewandelten Anstaltsverhältnissen nicht einfügten, die, um es<br />

ganz kurz zu bezeichnen, zu gefährlich waren, um auf die Dauer in den bloss krankenhaus- <strong>und</strong> asylmässig<br />

eingerichteten Anstalten verpflegt zu werden.» Genau für diese «verhältnismässig sehr kleine Zahl» diene<br />

ein «Bewahrungshaus». Ris versprach sich von der Errichtung eines «Bewahrungshaus» in der Rheinau<br />

eine «erhebliche Verbesserung unseres Anstaltswesens». Ins «Bewahrungshaus» sollten allein Kranke ver-<br />

bracht werden, «von welchen ihrer Umgebung eine ernstliche Gefahr droht, [...] deren Sinnen <strong>und</strong> Trach-<br />

ten aber beständig auf Flucht geht <strong>und</strong> von denen im Falle des Gelingens einer Flucht gefährliche Hand-<br />

lungen gegen andere Personen zu erwarten sind – endlich in dritter Linie <strong>und</strong> wohl nur in wenigen Aus-<br />

nahmefällen Kranke, die sich systematisch aller Disziplin widersetzen, gewohnheitsmässige Hetzer <strong>und</strong><br />

1250 Rast, 1918, 44.<br />

1251 Rast, 1918, 54 f.<br />

1252 Jb. Burghölzli, 1910, 12.<br />

1253 StAZH VII 30.5, Band 1, Schreiben von Ris an die Ges<strong>und</strong>heitsdirektion, 3. Februar 1909.<br />

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