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Psychiatrie und Strafjustiz

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unterstellen. Eine besondere Entlastung der psychiatrischen Anstalten erhoffte er sich durch die vermehr-<br />

te Einweisung vermindert Zurechnungsfähiger in Verwahrungsanstalten für «Gewohnheitsverbrecher»<br />

aufgr<strong>und</strong> Artikel 42 des Strafgesetzbuchs. Es sei Aufgabe der psychiatrischen Sachverständigen, den Rich-<br />

tern entsprechende Vorschläge zu machen. 1505 Der Direktor der Rheinau, Hans Binder (1899–1989), prä-<br />

sentierte im September 1945 schliesslich ein umfassendes Konzept zur Unterbringung vermindert Zu-<br />

rechnungsfähiger. 1506 Er rekapitulierte zunächst die Vor- <strong>und</strong> Nachteile der bisher diskutierten Unterbrin-<br />

gung in Spezialanstalten <strong>und</strong> Annexen an Irren- oder Strafanstalten. Solchen institutionellen Lösungsan-<br />

sätzen stellte Binder ein nach dem Einzelfall differenzierendes Modell gegenüber, das die zu verwahren-<br />

den DelinquentInnen in vier Gruppen einteilte. An einem Teil der vermindert Zurechnungsfähigen könne<br />

die verkürzte Strafe problemlos im regulären Strafvollzug vollzogen werden. Bei einer zweiten Gruppe<br />

empfahl Binder dagegen eine ambulante Behandlung, die eventuell mit einer Schutzaufsicht verb<strong>und</strong>en<br />

sein könne. Eine dritte Gruppe von Delinquenten bedürfe einer eigentlichen medizinischen Behandlung<br />

<strong>und</strong> sei deshalb nach wie vor in ärztlich geleitete Anstalten einzuweisen. Binder hielt jedoch daran fest,<br />

«dass im Allgemeinen nur solche vermindert zurechnungsfähige Kriminelle in die psychiatrische Anstalt<br />

eingewiesen werden, bei denen wenigstens der Versuch einer ärztlichen Behandlung angezeigt ist». 1507<br />

Diese Gruppe sei allerdings nicht allzu gross <strong>und</strong> würde vor allem die seltenen Fälle kriminell gewordener<br />

Neurotiker umfassen, die einer Psychotherapie zugänglich seien. Bei der eigentlichen «Kerntruppe des<br />

Verbrechertums», bei den «gemütsarmen, haltlosen, hyperthymischen, geltungssüchtigen Psychopathen»<br />

sei dagegen jegliche Psychotherapie «machtlos». Diese bedeutendste Gruppe sei daher nur zur Begutach-<br />

tung <strong>und</strong> bei akuten psychotischen Erkrankungen in psychiatrischen Anstalten unterzubringen <strong>und</strong> sonst<br />

in eine Verwahrungsanstalt einzuweisen. Dies müsse künftig nicht allein beim Vorliegen der in Artikel 42<br />

genannten Bedingungen, sondern auch aufgr<strong>und</strong> von Artikel 14 möglich sein. Die Verwahrungsanstalt sei<br />

demzufolge mit zusätzlichen Sicherungsmitteln auszurüsten <strong>und</strong> mit straffer Disziplin zu führen, so «dass<br />

sie vermindert zurechnungsfähigen Psychopathen als ihren hauptsächlichsten Insassen angemessen ist». 1508<br />

Binders Interpretation des Strafgesetzes fand allerdings nur teilweise den Segen der Rechtssprechung.<br />

Zwar erklärte das B<strong>und</strong>esgericht 1945 seine Zustimmung zur Einweisung vermindert Zurechnungsfähiger<br />

in Verwahrungsanstalten für «Gewohnheitsbrecher», allerdings nur dann, wenn die in Artikel 42 genannte<br />

Bedingung der wiederholten Rückfälligkeit erfüllt war. 1509 Wie im Zusammenhang mit der Diskussion des<br />

Berner Vollzugsmodells bereits ausgeführt worden ist, erachtete das B<strong>und</strong>esgericht die Einweisung in eine<br />

Verwahrungsanstalt für «Gewohnheitsverbrecher» im Fall einer Verwahrung aufgr<strong>und</strong> Artikel 14 jedoch<br />

für unzulässig. Binders Argumentation verdeutlicht die Stossrichtung der im Kanton Bern praktizierten<br />

Variante einer teilweisen Demedikalisierung des Massnahmenrechts. Nur mehr vermindert Zurechnungs-<br />

fähige <strong>und</strong> «Psychopathen», die sich einer medizinischen Therapie zugänglich zeigten, sollten in psychiatri-<br />

schen Institutionen verwahrt <strong>und</strong> behandelt werden. Der grosse Rest sollte dagegen an den Strafvollzug<br />

<strong>und</strong> an nicht ärztlich geleitete Anstalten abgegeben werden. Die Rolle der <strong>Psychiatrie</strong> beschränkte sich in<br />

diesen Fällen auf die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit <strong>und</strong> die Feststellung der Unheilbarkeit. Die<br />

psychiatrische Sachverständigentätigkeit erhielt dadurch die Aufgabe einer wirksamen Selektion der Delin-<br />

quentInnen nach den Kriterien der Heil- <strong>und</strong> Therapiefähigkeit. Gleichzeitig sollten die Konsequenzen<br />

der in den Augen der <strong>Psychiatrie</strong> fehlenden Behandlungsoptionen einseitig auf die betroffenen Straftäte-<br />

rInnen abgewälzt werden.<br />

1505 Wyrsch, 1945, 19-27.<br />

1506 Binder, 1945/46.<br />

1507 Binder 1945/46, 230.<br />

1508 Binder 1945/46, 4; Binder, 1951.<br />

1509 BGE 71 IV, 71.<br />

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