13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

efugnis. 616 Die Untersuchungsrichter unterstanden ihrerseits der Staatsanwaltschaft, die für die Anklage-<br />

erhebung zuständig war. 617 Als Überweisungsbehörde, die über die Versetzung in den Anklagezustand<br />

oder die definitive Einstellung eines Verfahrens entschied, amtierte eine Anklagekammer, welche admi-<br />

nistrativ dem Obergericht angegliedert war. Ihr oblag ferner die Kontrolle über die Staatsanwaltschaft, die<br />

Untersuchungsrichter <strong>und</strong> die gerichtliche Polizei. Nach der Revision von 1909 amtierte die erste Straf-<br />

kammer des Obergerichts als Überweisungsbehörde. 618 Ausschlaggebend für die Zuweisung eines Falles<br />

zu den Gerichtsinstanzen war die für das eingeklagte Delikt angedrohte Höchststrafe. Die Assisen hatten<br />

über alle Verbrechen, die mit Zuchthausstrafe (bis 1874 auch mit der Todesstrafe) bedroht waren, sowie<br />

über politische Delikte <strong>und</strong> Pressevergehen zu urteilen. Den Amtsgerichten oblag die Beurteilung der mit<br />

Korrektionshaus bedrohten Vergehen <strong>und</strong> den Gerichtspräsidenten der mit Gefängnis bis zu sechzig<br />

Tagen Haft oder mit Geldbusse bestraften Übertretungen. 619<br />

Im Untersuchungszeitraum gelangten psychiatrische Sachverständige vor allen Gerichtsinstanzen zum<br />

Einsatz, wenngleich der grösste Teil der Begutachtungsfälle von den Geschworenengerichten erledigt<br />

wurden. 1908 gelangten beispielsweise 21 Gutachten der kantonalen Irrenanstalten vor die Gerichtsinstanzen:<br />

18 dieser Fälle wurden von den Geschworenen, ein Fall durch ein Korrektionsgericht <strong>und</strong> zwei<br />

Fälle von Einzelrichtern behandelt. Diese Fallverteilung liefert zugleich die Begründung für die Quellen-<br />

auswahl der vorliegenden Untersuchung, die sich in erster Linie auf Gerichtsakten der Geschworenenge-<br />

richte stützt. In der Mehrheit der untersuchten Fälle wurden psychiatrische Gutachten bereits von den<br />

Untersuchungsrichtern <strong>und</strong> Staatsanwälten im Laufe der Voruntersuchung in Auftrag gegeben, das heisst<br />

zu einem Zeitpunkt, als die Anklageerhebung noch ausstehend war. Wie in Kapitel 7.2 gezeigt wird, kam<br />

den Untersuchungsbeamten eine entscheidende Rolle bei der Inanspruchnahme psychiatrischer Deu-<br />

tungskompetenzen durch die <strong>Strafjustiz</strong> zu. Daneben hatte sich im Kanton Bern die Praxis herausgebildet,<br />

Strafverfahren in Fällen von offensichtlicher Schuld- <strong>und</strong> Verhandlungsunfähigkeit der Angeschuldigten<br />

bereits im Stadium der Voruntersuchung einzustellen. Dies hatte zur Folge, dass nur ein Teil der psychiat-<br />

risch begutachteten StraftäterInnen überhaupt vor die gerichtlichen Instanzen gelangte. So stellten die<br />

Untersuchungsbehörden 1908 zusätzlich zu den erwähnten 18 Fällen in zehn Fällen das Verfahren von<br />

sich aus ein. 620 Die vorliegende Untersuchung trägt diesem Umstand dadurch Rechnung, dass sie zusätz-<br />

lich zu den Gerichts- auf Krankenakten zurückgreift, die eingestellte Fälle dokumentieren.<br />

Die getroffene Quellenauswahl rechtfertigt es, kurz auf die Institution <strong>und</strong> Besonderheiten der Geschwo-<br />

renengerichte im Kanton Bern einzugehen. Die Idee des Schwurgerichts als ein Gericht mit direkter Betei-<br />

ligung des Volkes verbreitete sich im kontinentalen Europa im Anschluss an die Französische Revoluti-<br />

on. 621 Im Kanton Bern fand sie ihren Durchbruch ebenfalls mit der radikalen Verfassung <strong>und</strong> der Ge-<br />

richtsorganisation von 1846/47. Eng mit dieser Form der Gerichtsbarkeit verb<strong>und</strong>en waren die liberalen<br />

Postulate der Öffentlichkeit, Mündlichkeit <strong>und</strong> Unmittelbarkeit des Gerichtsverfahrens. Das Berner Geschworenengericht<br />

setzte sich aus zwölf öffentlich gewählten <strong>und</strong> für die jeweilige Session ausgelosten<br />

Geschworenen <strong>und</strong> drei Mitgliedern der Kriminalkammer zusammen, welche als Berufsrichter dem Ober-<br />

gericht angehörten. 622 Die Geschworenen als Laienrichter entschieden in ihrem Spruch unabhängig über<br />

616 GDV, 1847, 238-262, Artikel 54-58; StV 1850, Artikel 89-96; GDV, 1909, 7-36, Artikel 78-83.<br />

617 GDV, 1847, 238-262, Artikel 59-71, StV 1850, Artikel 234-241, GDV, 1909, 7-36, Artikel 84-98.<br />

618 GDV, 1847, 238-262, Artikel 50; GDV, 1909, 7-36, Artikel 11.<br />

619 GDV, 1847, 238-262, Artikel 47, Paragraphen 5-7.<br />

620 Für die Fälle der Assisen: StAB BB 15.4, Bände 104-105; für die übrigen Fälle: StAB A II, Band 1470. Bei den Fällen in StAB<br />

A II, Band 1470, handelt es sich um diejenigen Fälle, bei denen Anträge auf Sicherheitsverwahrung gemäss Artikel 47 StGB an<br />

den Regierungsrat gestellt wurden. Der Jahresbericht der kantonalen Irrenanstalten für 1908 weist ebenfalls 31 Gutachten aus.<br />

621 Sollberger, 1996.<br />

622 GDV, 1847, 238-262, Artikel 11.<br />

139

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!