13.09.2013 Aufrufe

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

Psychiatrie und Strafjustiz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Ursachen des Verbrechens einher. In seiner 1899 erschienenen Synthese Die Ursachen <strong>und</strong> Bekämpfung des<br />

Verbrechens präsentierte Lombroso eine multifaktorielle Ätiologie des Verbrechens, die sowohl biologische<br />

als auch soziale Faktoren berücksichtigte. 251<br />

Ferri postulierte in seiner 1881 erschienenen Sociologia criminale einen «f<strong>und</strong>amentalen Unterschied zwi-<br />

schen Gelegenheits- <strong>und</strong> Gewohnheitsverbrecher» <strong>und</strong> unterschied zwischen «anthropologischen, physi-<br />

schen <strong>und</strong> sozialen Faktoren» des Verbrechens. Er bildete schliesslich fünf Verbrecherklassen: «Verbre-<br />

cherische Irre», «geborene Verbrecher», «Verbrecher aus erworbener Gewohnheit», «Gelegenheitsverbre-<br />

cher» <strong>und</strong> «Leidenschaftsverbrecher». 252 In seinen Augen ging es darum, strafrechtliche Sanktionen nach<br />

der Zuordnung einzelner DelinquentInnen zu diesen Kategorien auszugestalten. 253 Damit grenzte er sich<br />

bewusst von den Gr<strong>und</strong>sätzen des Schuldstrafrechts ab, wonach Strafen nach dem Verschulden <strong>und</strong> nicht<br />

nach der Persönlichkeit der TäterInnen verhängt werden sollten. 254 Mit der Neukonzeption des Sanktions-<br />

systems gab Ferri gleichzeitig der forensisch-psychiatrischen Begutachtungstätigkeit eine neue Richtung<br />

vor. Medizinische Experten sollten sich nicht mehr über die – obsolet gewordene – Frage der Zurech-<br />

nungsfähigkeit, sondern über die Klassifikation einzelner DelinquentInnen aussprechen. Dies implizierte<br />

eine Stärkung der Kompetenzen medizinischer Sachverständiger <strong>und</strong> eine wachsende Bedeutung eines<br />

humanwissenschaftlichen Strafwissens. In Ferris Strafrechtskonzeption erfolgte eine strukturelle Koppe-<br />

lung zwischen <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> nicht wie bisher primär über den Rechtsbegriff der Zurech-<br />

nungsfähigkeit, sondern im Hinblick auf die Behandlung von DelinquentInnen im Straf- <strong>und</strong> Massnah-<br />

menvollzug. Die juristisch-psychiatrische Zusammenarbeit verschob sich von Schuld- zu Vollzugsfragen.<br />

Die Rezeption des «geborenen Verbrechers» in Frankreich <strong>und</strong> Deutschland<br />

Ausserhalb Italiens fanden die kriminalanthropologischen Deutungsmuster vor allem über die zwischen<br />

1885 <strong>und</strong> 1911 abgehaltenen internationalen kriminalanthropologischen Kongresse Beachtung. Dabei<br />

zeigte sich, dass der Typus des «geborenen Verbrechers» sowohl in Frankreich, als auch in Deutschland<br />

auf wachsende Skepsis stiess. 255 Französische <strong>und</strong> deutsche Psychiater, Gerichtsmediziner <strong>und</strong> Anthropo-<br />

logen unterzogen nicht nur Lombrosos Bef<strong>und</strong>e einer substanziellen Kritik, sondern diskutierten auch<br />

deren Anwendbarkeit in der Justizpraxis. Denn nicht nur in den Augen konservativer Juristen drohten die<br />

neuen Deutungsmuster, die F<strong>und</strong>amente des Schuldstrafrechts zu untergraben. Auch Mediziner <strong>und</strong> Psy-<br />

chiater sahen sich vor das Problem gestellt, inwiefern das kriminalanthropologische Wissen mit der her-<br />

kömmlichen Begutachtungspraxis kompatibel war. Unter diesen Umständen erstaunt es nicht, dass die<br />

Rezeption der kriminalanthropologischen Theorien in Frankreich <strong>und</strong> Deutschland durch Aneignungs-<br />

muster geprägt war, die auf bestehende Denktraditionen <strong>und</strong> Praktiken in <strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> Justiz Rücksicht<br />

nahmen. Französische <strong>und</strong> deutsche Psychiater waren kaum bereit, ihre Gutachtertätigkeit in dem von den<br />

Kriminalanthropologen geforderten Sinn zu modifizieren <strong>und</strong> es auf grössere Konflikte mit den Justizbe-<br />

hörden ankommen zu lassen. Dies galt sogar für radikale Kriminalpolitiker wie Emil Kraepelin, der als<br />

Gerichtsgutachter die herkömmlichen Modi der Zusammenarbeit zwischen Justiz <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> durch-<br />

aus zu respektieren wusste. 256 Allenfalls bemühten sich Psychiater <strong>und</strong> Gerichtmediziner, Elemente des<br />

251 Lombroso, 1902.<br />

252 Ferri, 1896, 125, 85. Die erste Auflage der Sociologia criminale erschien 1881 unter dem Titel I nuovi orrizzonti del diritto e della<br />

procedura penale.<br />

253 Ferri, 1896, 421f.<br />

254 Vgl. Kp. 3.2.<br />

255 Da die kriminalanthropologischen Theorien in England nur zögerlich Resonanz fanden, beschränken sich die folgenden Ausführungen<br />

auf die Rezeption in den für die Entwicklung in der Schweiz massgeblichen Nachbarländern. Zu England: Oberwittler,<br />

2000, 35-54; Wiener, 1990.<br />

256 Vgl. Engstrom, 2001, 379; Nye, 1984, 110f.<br />

62

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!