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Psychiatrie und Strafjustiz

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die Berner Psychiater merken mussten, waren die Resultate der Testverfahren nur bedingt geeignet, um<br />

die Justizbehörden von der «Strenge <strong>und</strong> Exaktheit» des psychiatrischen Wissens zu überzeugen, wie sich<br />

dies Schultze erhofft hatte. Die mangelnde Stabilisierung der Testresultate war zu einem guten Teil darauf<br />

zurückzuführen, dass die verwendeten Tests auf eine Skalierung der Resultate verzichteten <strong>und</strong> sich statt-<br />

dessen an qualitativ-psychologischen Begriffen wie «Retention» <strong>und</strong> «Kombination» orientierten. Dadurch<br />

liessen sich widersprüchliche Resultate in einzelnen Testbereichen nicht homogenisieren <strong>und</strong> eine Quanti-<br />

fizierung von Intelligenzdefiziten, wie sie Testverfahren aus Frankreich <strong>und</strong> den USA erlaubten, wurde<br />

verunmöglicht. 937 Insgesamt relativiert sich die Bedeutung der neuen Testverfahren für die forensischpsychiatrische<br />

Praxis im Kanton Bern. Die Schwierigkeiten im Umgang mit den neuen Testverfahren<br />

hatten zur Folge, dass die Sachverständigen weiterhin auf die traditionellen Formen der Wissensprüfung<br />

setzten <strong>und</strong> dabei auch deren soziokulturellen Konditionierungen weiterhin reproduzierten.<br />

«Schwachsinn» <strong>und</strong> die Frage der Strafeinsicht<br />

Zustände von «Schwachsinn» betrafen nach dem herkömmlichen Verständnis primär die intellektuellen<br />

Fähigkeiten. Was die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit anbelangte, hiess dies, dass bei Fällen von<br />

«Schwachsinn» die Rechtsfrage der Strafeinsicht zwangsläufig im Vordergr<strong>und</strong> stand. Dass sich bei<br />

«Schwachsinnigen» eine Begutachtung nicht allein auf das Stellen einer Diagnose beschränkte, zeigt bei-<br />

spielhaft der Fall des 67jährigen Taglöhners Jakob R., der 1908 beschuldigt wurde, das Bauernhaus seines<br />

Meisters bei Lauperswil fahrlässig in Brand gesteckt zu haben. In diesem Fall bereitete die Diagnose den<br />

Sachverständigen keine Schwierigkeiten. Aufgr<strong>und</strong> einer Intelligenzprüfung stellten sie bei Jakob R. «mangelhafte<br />

Elementarkenntnisse» fest; er besitze zwar «mancherlei Kenntnisse aus dem praktischen Leben»,<br />

die jedoch «nur die allergewöhnlichsten tatsächlichen Dinge, die er selbst erlebt <strong>und</strong> erfahren hat», betref-<br />

fen würden. Insgesamt bescheinigte ihm das Gutachten einen «ganz engen Horizont»; so kenne er den<br />

Flusslauf der Emme kaum über die Nachbargemeinden hinaus. Zudem habe er seine «Schwäche» auch<br />

durch seinen Lebensgang bewiesen; er habe immer äusserst wenig verdient <strong>und</strong> habe bereits im Alter von<br />

28 in der Armenanstalt versorgt <strong>und</strong> danach verkostgeldet werden müssen. Ebenfalls als Beleg für den<br />

«Schwachsinn» von Jakob R. werteten die Sachverständigen dessen Klagen, er werde von Kindern häufig<br />

geneckt. 938<br />

Mehr Argumentationsaufwand verlangte den Sachverständigen die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit<br />

ab. Anhand der Angaben von Jakob S. <strong>und</strong> verschiedener Zeugenaussagen rekonstruierten sie zunächst<br />

den Ablauf <strong>und</strong> die Umstände des Brands. Wie Jakob R. dem Untersuchungsrichter gestand, habe er<br />

abends in seinem Zimmer Pfeife geraucht. Ohne die Pfeife mitzunehmen, sei er kurz auf den Abtritt ge-<br />

gangen; als er zurückgekommen sei, habe sein Strohbett bereits lichterloh gebrannt. Er habe den Brand,<br />

bei dem mehrere Tiere starben, aber nicht absichtlich gelegt. Der Pächter, bei dem Jakob R. verkostgeldet<br />

war, sagte gegenüber dem Untersuchungsrichter aus, Jakob R. sei «kein Trinker», er sei zwar «etwas<br />

aufbrausend, launenhaft, doch arbeitsam, gegen die Kinder (die ihn oft necken sollen) jähzornig».<br />

Anzeichen von Geistesstörung habe er bei ihm nie wahrgenommen. Der Pächter <strong>und</strong> seine Frau<br />

bezeichneten Jakob R. als «beschränkten, aber schlauen Burschen». Aufgr<strong>und</strong> von Gerüchten, dass Jakob<br />

R. bereits früher Branddrohungen ausgestossen habe, vermutete der Pächter, dieser habe sein Haus<br />

absichtlich angezündet. Gemäss Auskunft der örtlichen Vorm<strong>und</strong>schaftsbehörde stand Jakob R. seit 1883<br />

auf dem Notarmenetat. 939 Er sei «subsistenzunfähig» <strong>und</strong> seit jeher ein «störrischer Bursche», der deshalb<br />

937 Gould, 1983, 172-177. In den Augen Ziehens dienten die Tests denn auch weniger zur Beurteilung der Intelligenz als solchen,<br />

als vielmehr zur Diagnostizieren unterschiedlicher Formen von Demenz; vgl. Ziehen, 1911, 72f.<br />

938 Dazu meinte das Gutachten lakonisch: «Es liegt in der menschlichen Natur, mit solchen Schwachsinnigen Spass zu treiben»;<br />

vgl. UPD KG 6422, Psychiatrisches Gutachten über Jakob R., o.D. [1908].<br />

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