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Psychiatrie und Strafjustiz

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Gesetze» führen lasse, so stand dasjenige der «Haltlosigkeit» stärker in der Tradition der Spezialmanien<br />

<strong>und</strong> des Modells einer «verminderten Widerstandskraft». Solchen «Haltlosen» würden die sittlichen Hem-<br />

mungen <strong>und</strong> Antriebe fehlen, die sie vor der Begehung von Delikten abhielten oder ihnen ein «tatkräftiges<br />

Leben» erlaubten. 284<br />

Drittens: Das Psychopathiekonzept konzeptualisierte ein Übergangsgebiet zwischen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit.<br />

Bezugspunkt dieses «breiten Zwischengebiets zwischen ausgesprochen krankhaften Zuständen <strong>und</strong> jenen<br />

persönlichen Eigentümlichkeiten, [...] die wir noch dem Bereiche des Ges<strong>und</strong>en zuweisen» war eine imagi-<br />

näre Durchschnittsnorm. Die Rede war etwa von «Abweichungen von der vorgezeichneten Entwicklungs-<br />

richtung» oder der «allgemeinen Abweichung von der Ges<strong>und</strong>heitsbreite». 285 In den Blick der <strong>Psychiatrie</strong><br />

gerieten dadurch geringfügigere Verhaltensauffälligkeiten <strong>und</strong> «Eigentümlichkeiten», denen bisher kein<br />

Krankheitswert zugeschrieben worden war <strong>und</strong> die nun als Anzeichen einer «psychopathischen Konstitu-<br />

tion» interpretiert werden konnten. In der forensisch-psychiatrischen Praxis wirkte sich dies in einer star-<br />

ken Zunahme von «Grenzfällen» aus, bei denen die Frage der Zurechnungsfähigkeit schwer zu entschei-<br />

den war. Gerade solche Fälle erlaubten den Psychiatern, gegenüber den Justizbehörden Kompetenzansprüche<br />

in Bezug auf die Erkennung <strong>und</strong> Behandlung «zweifelhafter Geisteszustände» geltend zu machen.<br />

Indem sich das Psychopathiekonzept nicht mehr an der klassischen medizinischen Dichotomie von<br />

Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit, sondern am Bezugspunkt einer imaginären «Normalitätszone» orientierte,<br />

kann es als genuines «Normalisierungswissen» (Jürgen Link) bezeichnet werden, das wie geschaffen war,<br />

um mit gesellschaftlichen Normvorstellungen <strong>und</strong> Rollenerwartungen besetzt zu werden. 286 Viertens: Die<br />

zentrale Funktion des Psychopathiekonzepts bestand in der Pathologisierung sozialer Devianz. Das Deu-<br />

tungsmuster der «psychopathischen Persönlichkeit» erlaubte es, soziales Fehlverhalten einer neuen Bewer-<br />

tung zu unterziehen. Verhaltensweisen, die in den Augen medizinischer Laien traditionellerweise als unan-<br />

gemessen, «lasterhaft», «sittlich verwerflich» oder «kriminell» galten, liessen sich nun psychiatrisch erfassen.<br />

So hiess es bei Krafft-Ebing: «Der Laie sieht in solchen Personen Vagab<strong>und</strong>en, sittliche Schwächlinge,<br />

Verschwender, Verbrecher – der Fachmann findet Schwächezustände der höchsten geistigen Funktionen<br />

bis zu greifbarem Schwachsinn.» 287 Das Vererbungsparadigma <strong>und</strong> der Fokus auf vergleichsweise gering-<br />

fügige psychische «Eigentümlichkeiten» verlieh solchen psychiatrischen Deutungsmustern eine spezifische<br />

Qualität, die sich von traditionellen Verhaltensdeutungen unterschied. Durch sein Potenzial zur Pathologisierung<br />

sozialer Devianz stützte das Psychopathiekonzept aber gleichzeitig jene sozialen Normen <strong>und</strong><br />

Zuschreibungen, die der Definition abweichenden <strong>und</strong> kriminellen Verhaltens zugr<strong>und</strong>e lagen.<br />

Gerade das letzte Element der diskursiven Matrix zeigt die enge Abhängigkeit des Konzepts der «psycho-<br />

pathischen Persönlichkeit» von einem juristisch-moralischen Bewertungskontext. Die Diagnose «Psycho-<br />

pathie» spielte in der deutschsprachigen <strong>Psychiatrie</strong> der Jahrh<strong>und</strong>ertwende denn auch weniger in klini-<br />

scher, als in forensischer Hinsicht eine Rolle. Konsequenterweise hing die Stabilisierung des Konzepts<br />

wesentlich von seiner Anschlussfähigkeit ausserhalb der <strong>Psychiatrie</strong> ab.<br />

Fazit: Forensische <strong>Psychiatrie</strong>, Psychopathiekonzept <strong>und</strong> «Bürgerlichkeit»<br />

Für die Entwicklung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> war es in der Tat von zentraler Bedeutung, dass sich das<br />

Psychopathiekonzept in der Justizpraxis zwischen 1890 <strong>und</strong> 1920 als anschlussfähig erwies. Diese An-<br />

schlussfähigkeit markiert denn auch eine entscheidende Differenz zu den kriminalanthropologischen Ver-<br />

284 Kraepelin, 1904 II, 829f.<br />

285 Kraepelin, 1904 II, 815.<br />

286 Vgl. Link, 1999, in Bezug auf die <strong>Psychiatrie</strong>: 85-94, 299-303.<br />

287 Krafft-Ebing, 1892, 277. Zur Pathologisierung sozialer Devianz durch die deutsche <strong>Psychiatrie</strong> ebenfalls: Schmiedebach, 1997,<br />

108-110.<br />

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