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Psychiatrie und Strafjustiz

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sie erstmals eine ausführliche Erörterung der neuen Gesetzesbestimmungen aus psychiatrischer Sicht ent-<br />

hielt. Wyrsch umschrieb die Zielsetzung des Buches dahingehend, «dass es zum Verständnis der Voraus-<br />

setzungen beitragen [möchte], wie sie hinter jeder der beiden Wissenschaften stehen, <strong>und</strong> möchte deutlich<br />

machen, warum jede ihrer besonderen Methode folgen muss.» 1560<br />

Paradoxerweise lagen Wyrschs Bestrebungen zu einer interdisziplinären Verständigung letztlich ein Kon-<br />

zept der disziplinären Differenzierung zugr<strong>und</strong>e. Wyrsch bezeichnete die <strong>Psychiatrie</strong> als Naturwissen-<br />

schaft, die Rechtswissenschaft dagegen als Normwissenschaft, die beide von inkommensurablen Voraus-<br />

setzungen ausgehen würden. Allerdings, so Wyrsch, sei die <strong>Psychiatrie</strong> als Wissenschaft der «seelischen<br />

Erscheinungen» keineswegs allein Naturwissenschaft, sondern «noch etwas anderes». Die <strong>Psychiatrie</strong> be-<br />

schäftige sich nicht allein mit dem Erklären reproduzierbarer Abläufe, sondern ebenfalls mit dem Verste-<br />

hen einmaliger <strong>und</strong> sinnhafter seelischer Prozesse. Im Gegensatz zur Rechtswissenschaft müsse die Psy-<br />

chiatrie ihren Gegenstand aber nicht bewerten, sondern nur verstehen oder erklären können. Gleichzeitig<br />

sei es aber falsch, einen Gegensatz zwischen Rechtswissenschaft <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> zu konstruieren, der auf<br />

unterschiedlichen Vorstellungen von Krankheit basiere, melde doch die Jurisprudenz als Normwissen-<br />

schaft keinen Anspruch auf einen eigenen Krankheitsbegriff an. Problematisch sei vielmehr das Einfliessen<br />

eines «volkstümlichen Krankheitsbegriffs» in die Rechtsprechung, der im Vergleich zur psychiatri-<br />

schen Krankheitsauffassung zu eng sei <strong>und</strong> namentlich dem Vorhandensein verschiedener «abnormer<br />

Zustände» zuwenig Rechnung trage. In den Augen Wyrschs war es die Aufgabe der forensischen Psychiat-<br />

rie, «diese verschiedenen Ausdrucksweisen aufeinander abzustimmen <strong>und</strong> damit die scheinbaren Wider-<br />

sprüche aufzulösen.» Dies gelinge umso besser, je mehr man sich die unterschiedlichen Funktionsweisen<br />

der beiden Bezugssysteme vergegenwärtige. Wyrsch gab sich überzeugt, dass sich die Standpunkte von<br />

<strong>Psychiatrie</strong> <strong>und</strong> Justiz trotz ihrer unterschiedlichen Ausrichtung im «praktischen Ziel» wieder treffen wür-<br />

den. 1561<br />

Wyrschs Ausführungen zum Verhältnis von <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> <strong>Psychiatrie</strong> sind in zweifacher Hinsicht be-<br />

merkenswert. Einerseits ging Wyrsch von einer auf prinzipieller Ebene nicht zu überwindenden Differenz<br />

zwischen den beiden Bezugssystemen aus. Damit verb<strong>und</strong>en war die Anerkennung deren unterschiedli-<br />

cher Funktionsweisen. Was die Sachverständigentätigkeit anbelangte, bedeutete dies zugleich eine Bekräf-<br />

tigung der im neuen Strafgesetzbuch vorgenommenen Kompetenzverteilung zwischen Justizbehörden<br />

<strong>und</strong> Experten. In diesem Kontext sind auch die Vermittlungsfunktionen, die Wyrsch seiner Gerichtlichen<br />

<strong>Psychiatrie</strong> zugr<strong>und</strong>e legte, zu sehen, setzte doch die Anerkennung unterschiedlicher Systemlogiken system-<br />

übergreifende Vermittlungs- <strong>und</strong> Übersetzungsleistungen voraus. Tendierten einzelne Psychiater wie Ben-<br />

no Dukor dazu, den Bereich der <strong>Psychiatrie</strong> gegenüber der Systemlogik des Rechts zu autonomisieren, so<br />

ging es für Wyrsch im Gegenzug darum, mittels vertiefter Gr<strong>und</strong>lagenreflexion die Funktionsfähigkeit<br />

intersystemtischer Beziehungen im Hinblick auf «praktische Ziele» sicherzustellen. Wyrsch anerkannte,<br />

dass die Bemühungen von Justizbehörden <strong>und</strong> Psychiatern letztlich in identischen «praktischen Zielen»<br />

konvergierten, die er mit «Rechtssicherheit <strong>und</strong> Schutz von Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft im Allgemeinen»<br />

<strong>und</strong> «Heilung <strong>und</strong> Fürsorge im Einzelfall» umschrieb. 1562 Ungeachtet der Differenzen auf gr<strong>und</strong>sätzlicher<br />

Ebene, ging Wyrsch vom Leitbild einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung durch <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> Psy-<br />

chiatrie in der Justizpraxis aus. Voraussetzung dazu, so lässt sich die Quintessenz der Gerichtlichen <strong>Psychiatrie</strong><br />

zusammenfassen, war die Sicherstellung eines reibungslosen systemübergreifenden Wissenstransfers, der<br />

seinerseits die Gr<strong>und</strong>lage für eine regulative Kriminalpolitik abgeben sollte.<br />

1560 Wyrsch, 1946, 8.<br />

1561 Wyrsch, 1946, 16.<br />

1562 Wyrsch, 1946, 16.<br />

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