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Psychiatrie und Strafjustiz

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ten. Im Zeichen eines evolutionären Szientizismus engagierte sich Forel in der Abstinenzbewegung <strong>und</strong><br />

trat für eine «rationelle menschlichen Zuchtwahl» durch eugenische Massnahmen wie Sterilisationen <strong>und</strong><br />

Heiratsverbote ein. Nach seinem Rücktritt als Direktor des «Burghölzli» im Jahre 1898 wandte er sich der<br />

Sexualreform <strong>und</strong> dem Pazifismus zu. Wie noch zu zeigen sein wird, gehörte zu Forels Sozialreformertum<br />

auch das Eintreten für eine radikale Kriminalpolitik. 425<br />

Die zunehmende Inanspruchnahme psychiatrischer Begutachtungskompetenzen durch die kantonalen<br />

Justizbehörden hatte seit den 1870er Jahren innerhalb der psychiatrischen scientific community ein wachsen-<br />

des Interesse an forensisch-psychiatrischen Fragestellungen zur Folge, das sich in einer steigenden Zahl<br />

gerichtspsychiatrischer Publikationen niederschlug. 426 So veröffentlichte das Correspondenzblatt für Schweizer<br />

Ärzte 1877 erstmals ein Gutachten über den Geisteszustand einer Brandstifterin. 427 Bereits ein Jahr zuvor<br />

war in der gleichen Zeitschrift eine Rezension von Krafft-Ebings Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie<br />

erschienen. 428 Auch in den folgenden Jahren publizierte das Correspondenzblatt weiterhin Beiträge zur foren-<br />

sischen <strong>Psychiatrie</strong>. 429 Eine grössere Zahl psychiatrischer Gutachten enthielt die ab 1888 erscheinende<br />

Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, die den Schweizer Psychiatern zugleich ein Forum zur Artikulation<br />

ihrer kriminal- <strong>und</strong> standespolitischen Interessen bot. 430 1896 erschien als eigenständige Publikation eine<br />

Sammlung von Gutachten, die unter der Leitung Auguste Forels am Burghölzli erstellt worden waren. 431<br />

Auch im universitären Bereich erhielten forensisch-psychiatrische Themen ab den 1880er Jahren wach-<br />

sende Beachtung. So boten die Direktoren der Irrenanstalten in Zürich ab 1886 <strong>und</strong> in Bern ab 1889 Vor-<br />

lesungen zur gerichtlichen <strong>Psychiatrie</strong> an, welche sich teils an Medizinstudenten, teils an angehende Juris-<br />

ten richteten, <strong>und</strong> lösten dadurch forensisch-psychiatrische Problemstellungen definitiv aus dem Gebiet<br />

der Gerichtsmedizin <strong>und</strong> der Staatsarzneik<strong>und</strong>e heraus. 432 Die Verankerung der Forensik in der psychiatri-<br />

schen Ausbildung wirkte sich ebenfalls auf die akademische Forschung aus; so entstanden seit den 1890er<br />

Jahren an verschiedenen Schweizer Universitäten Dissertationen zu forensisch-psychiatrischen Themen. 433<br />

Aufgr<strong>und</strong> seiner Erfahrung an Forels Klinik veröffentlichte der Psychiater Anton Delbrück (1862–1944)<br />

1897 zudem ein gerichtspsychiatrisches Lehrbuch, das sich an Studierende, praktizierende Ärzte <strong>und</strong> Juris-<br />

ten wandte. 434 Eine weiterführende Spezialisierung der forensischen <strong>Psychiatrie</strong> fand in der Schweiz je-<br />

doch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts nicht statt. Erst in den 1940er Jahren sollten einzelne<br />

Schweizer Psychiater die forensische <strong>Psychiatrie</strong> als Domäne für eine fachliche Spezialisierung entde-<br />

cken. 435<br />

Die Aneignung neuer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens<br />

Die Verankerung forensisch-psychiatrischer Aufgaben <strong>und</strong> Fragestellungen in der psychiatrischen Berufs-<br />

<strong>und</strong> Wissenschaftspraxis ging zeitlich mit einer Aneignung neuer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens<br />

einher. Seit den 1870er Jahren fanden auch in der Schweiz jene kriminalitätsspezifischen Deutungsmuster<br />

Eingang in die forensisch-psychiatrische Praxis, die im Anschluss an die Degenerationstheorie entstanden<br />

waren. Nebst den klassischen Geisteskrankheiten rückten dadurch vermehrt unscharf abgegrenzte <strong>und</strong><br />

425 Vgl. Forel, 1947, 104, 139-145. Zu Forels Sozialreformertum: Tanner, 1999; Wottreng, 1999; Germann, 1997; Weber, 1993,<br />

22-27; Preiswerk, 1991; Zürner, 1983.<br />

426 Vgl. die frühen forensisch-psychiatrischen Publikationen: Ellinger, 1849; Zehnder, 1867.<br />

427 Sury-Bienz, 1877.<br />

428 CBl, 6, 1876, 432-434.<br />

429 Wille, 1877; Burckhardt, 1881; Cbl, 11, 1881, 596-598 (Rezension einer weiteren Auflage von Krafft-Ebings Lehrbuch).<br />

430 Vgl. dazu das folgende Unterkapitel.<br />

431 Kölle, 1896.<br />

432 Verzeichnis der Vorlesungen an der Hochschule Zürich, Zürich 1885-1900; Universität Bern. Vorlesungen, 1885-1900.<br />

433 Charbonnier, 1892; Steiger, 1901; Hartmann, 1904; Maier, 1908.<br />

434 Delbrück, 1897.<br />

435 Vgl. Kp. 11.3.<br />

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