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Psychiatrie und Strafjustiz

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e Verfehlungen gegen gesellschaftliche <strong>und</strong> geschlechtsspezifische Erwartungen wie eine harmonische<br />

Persönlichkeitsentwicklung, Bewährung, Konstanz <strong>und</strong> Zielstrebigkeit im Erwerbsleben oder die Missach-<br />

tung häuslicher Gepflogenheiten ins Bild der «Schizophrenie» einordnen. 910 Problematischer erwies sich<br />

bei solchen «Grenzfällen» dann allerdings eine Engführung von Schuld- <strong>und</strong> Krankheitsbegriff, wie dies<br />

die Psychiater im Fall von Friedrich H. erfolgreich unternommen hatten.<br />

7.5.2 «Angeborene Störungen»: «Schwachsinn» <strong>und</strong> «Triebhaftigkeit»<br />

Nicht als Geisteskrankheiten im eigentlichen Sinne wurden in der <strong>Psychiatrie</strong> des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts Zustände<br />

wie «Schwachsinn» oder «Blödsinn» betrachtet. Diese galten als unveränderliche, das heisst angebo-<br />

rene oder in der frühsten Kindheit erworbene Schädigungen der intellektuellen Fähigkeiten, die zudem<br />

häufig von körperlichen Missbildungen begleitet waren. 911 Wie der Berner Gerichtsmediziner Emmert um<br />

die Jahrh<strong>und</strong>ertwende feststellte, waren in forensischer Hinsicht vor allem Intelligenzminderungen mittle-<br />

ren Grades in der Form von «Schwachsinn» relevant: «Mehr gerichtlich-medizinisches Interesse [als der<br />

Blödsinn] bietet der Schwachsinn, der wesentlich in einer Schwäche derjenigen psychischen Funktionen<br />

besteht, welche die Intelligenz vermittelt. Die verschiedenen Verstandesoperationen, Bildung von Vorstel-<br />

lungen, Begriffen, Urteilen <strong>und</strong> Schlüssen können von den Betreffenden wohl ausgeführt werden, allein<br />

dies geschieht in einer mehr oder weniger beschränkten Weise <strong>und</strong> entspricht nicht dem gewöhnlichen<br />

natürlichen Menschenverstande. Die Vorstellungen gehen über die einfachsten Verhältnisse nicht hinaus.<br />

Die Begriffe fehlen entweder ganz oder sind sehr mangelhaft, die Urteile <strong>und</strong> Schlüsse sind beschränkt<br />

<strong>und</strong> vielfach unrichtig.» 912 Emmert bezog sich auf eine traditionelle Auffassung von «Schwachsinn», die<br />

sich primär auf offensichtliche Intelligenzdefizite bezog. Ärzte wie Emmert waren sich einig, dass solche<br />

«Schwachsinnige» in vielen Fällen auch von Laien auf den ersten Blick zu erkennen waren. Die Selbstevi-<br />

denz des «Schwachsinns» war auch in den Berner Gutachten ein häufiger Topos, wie das Gutachten über<br />

Jakob R. aus dem Jahre 1908 zeigt: «R. macht mit seiner kleinen Gestalt <strong>und</strong> unproportionierten Gliedern,<br />

seinem gedunsenen Gesicht, seinen plumpen Bewegungen <strong>und</strong> Gang <strong>und</strong> seiner schwerfälligen Sprache<br />

sofort den Eindruck eines Schwachsinnigen oder Beschränkten.» 913 Körperliche Missbildungen, Plumpheit<br />

im Auftreten, eine schwerfällige Sprechweise <strong>und</strong> eine langsame Auffassungsgabe waren in diesem Fall für<br />

die Sachverständigen die typischen Merkmalen eines «Schwachsinnigen».<br />

Die <strong>Psychiatrie</strong> hatte bis ins letzte Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts die Behandlung des «Schwachsinns» nur zu<br />

gern der (karitativen) «Idiotenfürsorge» überlassen. Erst allmählich setzte das wissenschaftliche Interesse<br />

der Psychiater an Intelligenzminderungen ein. 914 Vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts lässt<br />

sich eine zunehmende Ausdifferenzierung des Schwachsinnskonzepts feststellen. Solche Veränderungen<br />

auf der Ebene des psychiatrischen Wissens schlugen sich, wie in diesem Unterkapitel gezeigt werden soll,<br />

auch in der forensisch-psychiatrischen Praxis im Kanton Bern nieder. Einerseits bemühten sich die Berner<br />

Psychiater um eine exaktere Bestimmung der Intelligenzminderungen, andererseits erfuhr der «Schwach-<br />

sinn» auf konzeptueller Ebene insofern eine Ausweitung, als vermehrt nicht nur Defizite der intellektuel-<br />

len, sondern auch der affektiven <strong>und</strong> voluntativen psychischen Funktionen ins Blickfeld der psychiatri-<br />

910 Zur diesbezüglichen Debatte zwischen Charlot Strasser <strong>und</strong> Hans W. Maier über die Frage, ob in einem ausgesprochenen<br />

«Grenzfall» eine «Psychopathie» oder «Dementia praecox» anzunehmen sei: Strasser, 1927, 84-86. Ebenfalls bekannt sind die<br />

Differenzen zwischen Bleuler <strong>und</strong> seinem Assistenten Alexander von Muralt über die Beurteilung eines Pazifisten; vgl. Aeschbacher,<br />

1998, 297.<br />

911 Z.B. Krafft-Ebing, 1892, 63; Miller, 1996; Miller/Berrios/Goodey/Thom, 1995, 227.<br />

912 Emmert, 1900, 509.<br />

913 UPD KG 6422, Gutachten über Jakob R., o.D. [1908], vgl. ebenfalls: PZM KG 4053, Gutachten über Fritz R., 25. November<br />

1913.<br />

914 Lengwiler, 2000, 105-114. Lengwiler bezieht sich allerdings vor allem auf die Ausdifferenzierung der Konzepte des «intellektuellen»<br />

<strong>und</strong> des «moralischen Schwachsinns».<br />

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