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Psychiatrie und Strafjustiz

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<strong>und</strong> der Strafeinsicht in Beziehung zu setzen. Vor allem das «Modell der verminderten Widerstandskraft»<br />

erlaubte den Sachverständigen, «erbliche Belastungen», psychopathologische «Eigentümlichkeiten» <strong>und</strong><br />

soziale Devianz in plausibel erscheinende Sinnzusammenhänge zu bringen. Deutlich wird in solchen Gut-<br />

achten die diskurstragende Funktion einer Willenssemantik, die weniger der klinischen <strong>Psychiatrie</strong> als der<br />

juristischen Schuldlehre entstammte. Die Reproduktion der strafrechtlichen Willenssemantik durch die<br />

Sachverständigen zeigt somit, wie stark das forensisch-psychiatrische Expertenwissen letztlich durch die<br />

konkreten Wissensbedürfnisse der Justizbehörden konditioniert wurde. Deutlich geworden sind aber auch<br />

Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen psychiatrischen Deutungsmustern. So lässt sich sowohl im<br />

Bereich der «einfachen Störungen», als auch der «konstitutionellen Störungen» <strong>und</strong> des «Schwachsinns»<br />

zeigen, dass die psychiatrischen Diskurse im Untersuchungszeitraum dazu tendierten, starre Grenzen zwi-<br />

schen Krankheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit zugunsten eines fliessenden Übergangsbereichs zu verwischen. Eben-<br />

falls lässt sich feststellen, dass psychiatrische Deutungen kriminellen Verhaltens unabhängig von den ge-<br />

stellten Diagnosen vergleichsweise kohärenten diskursiven Strukturen folgten. Diese liefen tendenziell<br />

darauf hinaus, dass Straftaten <strong>und</strong> das soziale Umfeld, in dem diese begangen wurden, auf die pathologi-<br />

sche Individualität der betreffenden StraftäterInnen reduziert wurden. Am prägnantesten zum Ausdruck<br />

kam dieser diskursive Effekt in Fällen, wo sich die psychiatrischen Sachverständigen mit dem Stellen einer<br />

Krankheitsdiagnose begnügten. Analoge Effekte zeitigte das flexibel operationalisierbare Modell der<br />

«verminderten Widerstandskraft», mit dem sich kriminelles Verhalten beinahe beliebig auf eine krankhaft<br />

verminderte Willensfreiheit zurückführen liess. Unter dem Blick der Psychiater wurde Kriminalität somit<br />

in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen gleichermassen, zu einem blossen Epiphänomen von Geistes-<br />

krankheiten <strong>und</strong> psychischen «Abnormitäten».<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Kompetenzverteilung zwischen den Justizbehörden <strong>und</strong> den Sachverständigen bedeutete<br />

das Vorliegen psychiatrischer Deutungsangebote an sich noch keine Medikalisierung kriminellen Verhal-<br />

tens. Mit dem Abschluss der Begutachtungen wurden die psychiatrischen Deutungsangebote vielmehr<br />

wieder in das laufende Strafverfahren eingespiesen. Dieser Rückfluss an sozialem Sinn erfolgte wiederum<br />

über das Rechtsinstitut der Zurechnungsfähigkeit, das die strukturelle Koppelung der beiden beteiligten<br />

Bezugssysteme aufrechterhielt. Indem Aussagen der psychiatrischen Sachverständigen über die Zurech-<br />

nungsfähigkeit Eingang ins Rechtssystem fanden, wurden sie zugleich zum Gegenstand systemspezifischer<br />

Aushandlungs- <strong>und</strong> Selektionsprozesse. Erst deren Ausgang entschied über die Aneignung psychiatrischer Deutungs-<br />

muster kriminellen Verhaltens durch die <strong>Strafjustiz</strong> <strong>und</strong> damit über eine Medikalisierung kriminellen Verhaltens.<br />

Diese Aushandelungs-, Selektions- <strong>und</strong> Aneignungsprozesse sind Gegenstand dieses Unterkapitels. 1068<br />

Wie das in Kapitel 7.3 analysierte Fallbeispiel von Christian Binggeli zeigt, waren an diesen Prozessen<br />

mehrere AkteurInnen beteiligt, die über unterschiedliche Definitions- <strong>und</strong> Entscheidungsmacht verfügten.<br />

Wie in der Einleitung ausgeführt wurde, lässt sich diese agency an der Fähigkeit der AkteurInnen messen,<br />

Anschlussfähigkeit für das eigene kommunikative Handeln auf der Ebene der involvierten (juristischen)<br />

Sprachspiele herzustellen. Im «Fall Binggeli» waren nebst den Justiz- <strong>und</strong> Gerichtsbehörden der Angeklag-<br />

te <strong>und</strong> dessen Verteidiger an den Aushandlungsprozessen in der Schlussphase des Strafverfahrens betei-<br />

ligt. Die Verteilung der Handlungsspielräume auf diese Akteure war allerdings keineswegs symmetrisch.<br />

Gemäss dem juristischen Dispositiv blieb die abschliessende Entscheidungs- <strong>und</strong> Definitionskompetenz<br />

in jedem Fall in den Händen der Justizbehörden. Die Angeklagten verfügten im Gegenzug über die ge-<br />

setzlich vorgesehenen Verteidigungsrechte, die sie, wie zu zeigen sein wird, je nach Fall unterschiedlich zu<br />

1068 Zur Betrachtung juristischer Entscheidungsprozesse als Aushandlungsprozesse: Lengwiler, 2000, 249; Gleixner, 1994; Schulte,<br />

1989.<br />

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