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Psychiatrie und Strafjustiz

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heit bestimmten. 639 Eng an diese Strafreinsichts- <strong>und</strong> Willenssemantik lehnte sich auch Artikel 43 des<br />

Berner Strafgesetzbuchs von 1866 an: «Straflos sind diejenigen, die sich zur Zeit der Tat ohne ihr Ver-<br />

schulden in einem Zustand befanden, in welchem sie sich ihrer Handlung oder der Strafbarkeit derselben<br />

nicht bewusst waren (Wahnsinn, Blödsinn u.s.w.) oder die in Folge äusseren Zwanges, gefährlicher Dro-<br />

hungen oder aus andern Gründen der Willensfreiheit beraubt waren.» 640 Wie die Strafgesetzbücher der<br />

meisten Deutschschweizer Kantone sah das Berner Strafgesetz eine analoge Bestimmung zur verminder-<br />

ten Zurechnungsfähigkeit vor. In einem solchen Fall konnte der Richter die Strafe nach freiem Ermessen<br />

herabsetzen. 641 Mit der Frage der Unzurechnungsfähigkeit eng verb<strong>und</strong>en war die erwähnte Problematik<br />

der sichernden Massnahmen. Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs sah vor, dass die aufgr<strong>und</strong> Artikel 43<br />

«von Strafe befreiten» <strong>und</strong> «gemeingefährlichen» StraftäterInnen verwahrt werden konnten.<br />

Mit der gesetzlichen Verankerung der Willenssemantik des bürgerlichen Strafdiskurses grenzte sich Artikel<br />

43 definitiv gegenüber der Rechtstradition der Frühen Neuzeit ab, die in Geistesstörungen lediglich einen<br />

Strafmilderungsgr<strong>und</strong> unter andern gesehen hatte <strong>und</strong> Geistesstörungen zudem einseitig mit einem «Man-<br />

gel an Verstand» identifiziert hatte. Noch ganz in dieser Tradition gestanden hatte auch das Peinliche Gesetzbuch<br />

der Helvetischen Republik, das im deutschsprachigen Kantonsteil bis 1866 als subsidiäre<br />

Rechtsquelle galt. 642 Die neue Regelung eröffnete demgegenüber Möglichkeiten, die Willensfreiheit von<br />

StraftäterInnen in der Justizpraxis zu problematisieren. Allerdings verwiesen im Gesetzestext die in der<br />

Klammer exemplarisch aufgeführten Zustände «Wahnsinn oder Blödsinn» noch deutlich auf diese Rechts-<br />

tradition. 643 Bereits der erste Vorentwurf für ein Berner Strafgesetz von 1839 hatte die Straflosigkeit von<br />

StraftäterInnen bei «gänzlichem Mangel des Bewusstseins der Strafbarkeit» oder bei der «gänzlichen Auf-<br />

hebung der Willkür» vorgesehen. Konkret beschränkte der Entwurf dann aber die Zustände der Unzu-<br />

rechnungsfähigkeit auf diejenigen Personen, «welche in einem Zustand, worin sie des Gebrauchs der Ver-<br />

nunft nicht mächtig waren, gehandelt haben». 644 Auch der zweite Entwurf von 1852 sah den Zustand der<br />

Unzurechnungsfähigkeit vor allem in einer Störung der intellektuellen Fähigkeiten <strong>und</strong> des Bewusst-<br />

seins. 645 Erst der Vorentwurf von 1856 brachte den Durchbruch zu einer zeitgemässen psychologischen<br />

Umschreibung der Unzurechnungsfähigkeit durch die Komponenten der Strafeinsicht <strong>und</strong> der Willens-<br />

freiheit. Dieser Entwurf berücksichtigte ebenfalls erstmals eine verminderte Zurechnungsfähigkeit. 646<br />

Diese gesetzliche Definition der Zurechnungsfähigkeit bedeutete für die psychiatrischen Sachverständi-<br />

gen, dass sie in erster Linie die Strafreinsicht <strong>und</strong> die Willensfreiheit ihrer ExplorandInnen zu beurteilen<br />

hatten. Für den Berner Gerichtsmediziner Carl Emmert (1812–1903) stand ausser Frage, dass die Aufgabe<br />

des psychiatrischen Sachverständigen darin bestehe, «dass er vom medizinischen Standpunkte aus dem<br />

Richter auseinanderzusetzen hat, ob der Betreffende in dem vorliegenden Fall mit Bewusstsein <strong>und</strong> freier<br />

Willenstätigkeit gehandelt hat». 647 Als mögliche Gründe für fehlendes Bewusstseins nannte Emmert ju-<br />

gendliches Alter, Taubstummheit, Blödsinn, hochgradiger Schwachsinn, Schlaftrunkenheit oder Alkoholgenuss.<br />

648 In Bezug auf Störungen der Willensfreiheit beschränke sich der Gesetzestext dagegen auf die<br />

explizite Nennung «äusseren Zwangs» <strong>und</strong> «gefährlicher Drohungen». Nach Emmert waren Geistesstö-<br />

639 Greve, 1998, 131; Gschwend, 1996, 295f, 408-415; Gretener, 1897, 17; Stooss, 1892f. I, 172f.<br />

640 StGB BE 1866, Artikel 43, Absatz 1 (siehe Anhang 1).<br />

641 StGB BE 1866, Artikel 43, Absatz 2-3 (siehe Anhang 1).<br />

642 Greve, 1998, 115, Fussnote 29; Gschwend, 1996, 353.<br />

643 Vgl. Ludi, 1999, 390-392, Stooss, 1896. Die Detailberatung des Berner Strafgesetzbuchs von 1866 im Grossen Rat <strong>und</strong> weitere<br />

Materialien zur Gesetzgebung sind nicht überliefert.<br />

644 Entwurf 1839, Artikel 68.<br />

645 Entwurf 1852, Artikel 77.<br />

646 Entwurf 1856, Artikel 52.<br />

647 Emmert, 1895, 66.<br />

648 Emmert, 1895, 68-71.<br />

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