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Psychiatrie und Strafjustiz

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viel länger als die geschenkte Strafzeit beträgt.» 1179 Noch enthusiastischer als von Speyr, der seine Vorbe-<br />

halte gegenüber der neuen Regelung nicht verschwieg, begrüsste ein praktizierender Berner Arzt die Pra-<br />

xisänderung. Die Besprechung des Falls von Gottfried A. in der Monatsschrift für Kriminalpsychologie <strong>und</strong> Straf-<br />

rechtsreform geriet ihm zu einer Eloge auf die arbeitsteilige Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden <strong>und</strong><br />

Psychiater im Kanton Bern: «Wir finden im angeführten Fall Bestrafung <strong>und</strong> Nachbehandlung. Dieses Vorge-<br />

hen ist das höchste derzeit erreichbare Ziel der psychiatrisch-gerichtlichen Tätigkeit. Es zeigt uns, dass im<br />

Gegensatz zu Deutschland die Irrenärzte im Kanton Bern bei Juristen, speziell Richtern, Verständnis <strong>und</strong><br />

Eingehen auf ihre Anschauungsweise <strong>und</strong> ihren Standpunkt gef<strong>und</strong>en haben, <strong>und</strong> dass bereits Bausteine<br />

herbeigeschafft <strong>und</strong> Stufen gelegt worden sind zu der Stiege, die einem neuen Strafgesetz hinaufführt.» 1180<br />

In dieser Perspektive nahm der Entscheid des Regierungsrats von 1908 die Verwirklichung einer regulati-<br />

ven Kriminalpolitik, die auf eine teilweise Medikalisierung kriminellen Verhaltens setzte, gleichsam vor-<br />

weg.<br />

Fazit: Komplexe Entscheidungsprozesse <strong>und</strong> neue institutionelle Zugriffe<br />

Die Ausweitung der sichernden Massnahmen auf vermindert Zurechnungsfähige verdeutlicht zum einen<br />

die zugenommene Akzeptanz des Sicherungsgedankens in der Berner Justizpraxis. Psychiater, Richter <strong>und</strong><br />

der Regierungsrat waren sich weitgehend einig, dass «gemeingefährliche» vermindert Zurechnungsfähige<br />

über das eigentliche Strafmass hinaus verwahrt werden sollten. Wie bei Massnahmen aufgr<strong>und</strong> des Ar-<br />

menpolizeirechts trat in solchen Fällen die Garantie der verfassungsmässigen Freiheitsrechte hinter dem<br />

behördlichen Ermessen im Hinblick auf eine effiziente Kriminalitätsprophylaxe zurück. Die Rekonstruktion<br />

der Einzelfälle zeigt zum andern, dass psychiatrische Gutachten in den massgeblichen Entschei-<br />

dungsprozessen eine zentrale Rolle spielten. In allen vier untersuchten Fällen schlugen die psychiatrischen<br />

Sachverständigen den Gerichten die Anwendung sichernder Massnahmen vor. Für das Zustandekommen<br />

der Praxisänderung war es aber ebenso entscheidend, dass die Justizbehörden <strong>und</strong> der Regierungsrat an<br />

die psychiatrische Beurteilung der «Gemeingefährlichkeit» anschlossen <strong>und</strong> bereit waren, die Prognose der<br />

Psychiater über das künftige Verhalten der Delinquenten zur Gr<strong>und</strong>lage ihrer Entscheidungen zu machen.<br />

Die Ausweitung der sichernden Massnahmen auf vermindert Zurechnungsfähige kann deshalb als weiterer<br />

Beleg für die Herausbildung einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigungspraxis im Kanton Bern gewer-<br />

tet werden. Dass die Praxisänderung von 1908 in erster Linie selbst ein Produkt dieser Praxis war, zeigt<br />

sich darin, dass sie massgeblich von den situativen Umständen eines Einzelfalles abhing. Im historischen<br />

Rückblick entbehrt die Praxisänderung indes nicht einer gewissen Logik, die auf eine deutliche Auswei-<br />

tung des Massnahmenrechts hinaus lief. Dienten sichernde Massnahmen im von Falle Eugen L. noch als<br />

Überbrückungsmassnahme zwischen Urteil <strong>und</strong> Ausweisung, wurden sie im Fall von Gottfried A. zusätz-<br />

lich zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verhängt.<br />

Die Praxisänderung von 1908 weitete den institutionellen Zugriff der <strong>Psychiatrie</strong> auf eine neue Delinquen-<br />

tInnengruppe aus. Wenngleich im Kanton Bern bis 1920 nur knapp die Hälfte der zu verwahrenden ver-<br />

mindert Zurechnungsfähigen in Irrenanstalten eingewiesen wurden, hiess dies für die Psychiater dennoch,<br />

dass sie künftig in ihren Institutionen eine wachsende Zahl von «Grenzfällen» zu verwahren hatten, die<br />

nicht als eigentlich geisteskrank bezeichnet werden konnten. Dass die Berner Justiz von den Möglichkei-<br />

ten, die ihr die Praxisänderung von 1908 bot, bereitwillig Gebrauch machte, zeigte sich darin, dass 1909<br />

sichernde Massnahmen gegen zwei, 1910 sogar gegen fünf vermindert Zurechnungsfähige beantragt wurden.<br />

Der Regierungsrat sah sich 1909 sogar gezwungen, die neue Praxis wieder einzuschränken. Gegen<br />

1179 Speyr, 1909, 30f.<br />

1180 Lütschg, 1910/11, 395f. (Hervorhebungen im Original).<br />

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