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Psychiatrie und Strafjustiz

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7.1 Vorbemerkungen zur Quellenauswahl <strong>und</strong> Quellenkritik<br />

Die folgende Untersuchung der forensisch-psychiatrischen Begutachtungspraxis stützt sich auf zwei un-<br />

terschiedliche Quellentypen. Zum einen wurden Protokolle <strong>und</strong> Untersuchungsakten der Berner Ge-<br />

schworenengerichte aus dem Staatsarchiv des Kantons Bern ausgewertet. Vor dieser Instanz wurde der<br />

Grossteil der psychiatrischen Begutachtungsfälle verhandelt. 762 Nicht dokumentiert sind in diesen Unter-<br />

lagen Strafverfahren, die bereits im Laufe der Voruntersuchung aufgr<strong>und</strong> psychiatrischer Gutachten einge-<br />

stellt worden sind. Solche Strafverfahren sind in den Beständen des Staatsarchivs nur vereinzelt überlie-<br />

fert. 763 Um eine einseitige Ausrichtung des Quellenkorpus auf Gerichtsfälle zu vermeiden, wurde deshalb<br />

in einem zweiten Schritt auf Krankenakten der beiden grossen psychiatrischen Kliniken des Kantons<br />

Bern, Waldau <strong>und</strong> Münsingen, zurückgegriffen. Im Gegensatz zu den Gerichtsakten dokumentieren diese<br />

Krankenakten auch Begutachtungsfälle, die nicht bis vor die gerichtlichen Instanzen gelangten. Die Aus-<br />

wahl der Einzelfälle erfolgte mittels einer Stichprobe, die sechs über die ganze Untersuchungsperiode<br />

verteilte Stichjahre (1893, 1898, 1903, 1908, 1913, 1918) umfasste. Für diese Stichjahre liessen sich in den<br />

Protokollen der Geschworenengerichte 48 Strafverfahren eruieren, bei denen psychiatrische Sachverständige<br />

zum Einsatz gelangt waren. 764 Ein analoges Vorgehen wurde für die Krankenakten gewählt. Da die<br />

Krankenakten nach Patientennamen erschlossen sind, galt es ein Mittel zur Erschliessung der Begutach-<br />

tungsfälle zu finden. Als zweckmässig erwies sich dabei, von den Beschlüssen des Regierungsrats über<br />

sichernde Massnahmen aufgr<strong>und</strong> Artikel 47 des Berner Strafgesetzbuchs auszugehen. 765 Mittels dieser<br />

Regierungsratsbeschlüsse liessen sich in den Archiven der psychiatrischen Kliniken für ebenfalls sechs<br />

Stichjahre (1895, 1898, 1903/05, 1908, 1913, 1918/20) 30 Fälle eruieren, die im Laufe der Voruntersu-<br />

chung eingestellt worden waren. 766 Der aus diesen Auswahlverfahren resultierende Quellenkorpus von<br />

insgesamt 78 Fallbeispielen wurde zusätzlich um 18 Fallbeispiele ergänzt, bei denen es um Präzedenzfälle,<br />

besondere relevante Vergleichsbeispiele oder um veröffentlichte Gutachten handelt. Insgesamt wurden<br />

auf diese Weise 96 Begutachtungsfälle ausgewertet.<br />

Gerichts- <strong>und</strong> Patientenakten sind nicht nur, was der Aufbewahrungsort <strong>und</strong> die formale Struktur anbe-<br />

langen, unterschiedliche Quellentypen, sie verdeutlichen darüber hinaus auch unterschiedliche Überliefe-<br />

rungszusammenhänge <strong>und</strong> machen dadurch ein differenziertes quellenkritisches Vorgehen notwendig.<br />

Psychiatrische Gutachten in Gerichtsakten sind wie Aussageprotokolle, Briefe, Verfahrensbeschlüsse,<br />

Anklageakten, Urteile Bestandteil von Untersuchungsakten. Ihre Überlieferung steht in engem Zusam-<br />

menhang mit der Tätigkeit der Justizbehörden. Gerichtsakten dokumentieren den Stellenwert psychiatri-<br />

scher Begutachtungen innerhalb des Strafverfahrens <strong>und</strong> enthalten namentlich Angaben zu den Anlässen<br />

psychiatrischer Begutachtungen <strong>und</strong> zur Bewertung der psychiatrischen Expertenmeinung durch die Jus-<br />

tizbehörden <strong>und</strong> die Prozessparteien. Indem sie die institutionellen Mechanismen abbilden, in die psychi-<br />

atrische Begutachtungen eingeb<strong>und</strong>en waren, besitzen sie nicht nur Informations-, sondern darüber hinaus<br />

auch beträchtlichen Evidenzwert. 767 Im Gegensatz dazu sind psychiatrische Gutachten aus den Archi-<br />

ven der psychiatrischen Kliniken Bestandteil von Krankenakten, die den Aufenthalt der ExplorandInnen<br />

in den Irrenanstalten dokumentieren. Die häufig handgeschriebenen Gutachten, die oft Zeichen mehrma-<br />

762 Bestand StAB BB 15.4. Der Bestand ist unterteilt in Protokolle, Register <strong>und</strong> Untersuchungsakten. Im Gegensatz zu den unteren<br />

Gerichtsinstanzen (Amtsgerichte, Gerichtspräsidenten) ist die Tätigkeit der Geschworenengerichte in den Beständen des<br />

Staatsarchivs lückenlos dokumentiert.<br />

763 Vgl. Kp. 5.1. Auskunft des Staatsarchivars, Dr. Peter Martig, 14. Juni 2001.<br />

764 Zwei dieser Gutachten liegen publiziert vor: Speyr/Brauchli, 1894; Speyr/Brauchli, 1895.<br />

765 StAB A II, Bände 1452-1494.<br />

766 Eines dieser Gutachten liegt publiziert vor: Speyr/Brauchli, 1894a. Die Abweichungen bei der Auswahl der Stichjahre sind<br />

durch die lückenhafte Überlieferung der Krankenakten bedingt.<br />

767 Zur Quellenkritik von Gerichtsakten: Schwerhoff, 1999, 27-40.<br />

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