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Psychiatrie und Strafjustiz

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Ebenfalls auf der Ebene des Massnahmenvollzugs setzte ein zweiter Lösungsansatz an, der ausgesproche-<br />

ne «Grenzfälle» in besonderen Annexen an Strafanstalten unterbringen wollte. Im Gegensatz zu den deut-<br />

schen Beobachtungsabteilungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ging es bei diesen Vorschlägen<br />

aber um eine dauerhafte Verwahrung. Als vehementester Verfechter dieser Option erwies sich der Kö-<br />

nigsfelder Psychiater Arthur Kielholz, der bereits auf der Konferenz der Sanitätsdirektoren im Juni 1938<br />

auf diese Möglichkeit der Unterbringung hingewiesen hatte. 1510 Nach der Einführung des Strafgesetzbuchs<br />

nahm Kielholz seine Forderung wieder auf, wobei er vor allem auf das Beispiel der Berner Strafanstalt<br />

Witzwil hinwies, wo dank vielfältigen Beschäftigungs- <strong>und</strong> Erziehungsmöglichkeiten «grossartige Psycho-<br />

therapie <strong>und</strong> Heilpädagogik» geleistet werde. 1511 Kielholz wollte die Strafanstalten dazu bringen, den Psychiatern<br />

die von ihnen als straferstehungsfähig erklärten Delinquenten abzunehmen. 1512 Ebenfalls auf das<br />

Vorbild Witzwil verwies der Waadtländer Psychiater Hans Steck (1891–1980) anlässlich der Diskussionen<br />

auf der Tagung des Nationalkomitees für geistige Hygiene im April 1943. 1513 Der Zürcher Psychiater Herbert<br />

Binswanger (1900–1975) sah dagegen in den Interniertenlager für Flüchtlinge ein geeignetes Modell für<br />

ein künftiges «Verwahrungslager für Psychopathen». 1514 Wyrsch schliesslich wollte «Psychopathenabtei-<br />

lungen» zur Entlastung der bestehenden Irren- <strong>und</strong> Strafanstalten an die neuen Verwahrungsanstalten für<br />

«Gewohnheitsverbrecher» anhängen. 1515<br />

Weniger weit, aber in die gleiche Richtung wie die Forderung nach solchen Annexen gingen Vorschläge<br />

für regelmässige psychiatrische Konsultationen in den bestehenden Strafanstalten. Maier etwa wollte die<br />

Initiative ergreifen, dass an allen Strafanstalten ein «psychiatrisch gebildeter Arzt» die Gelegenheit hätte,<br />

sich mit den Sträflingen, soweit es notwendig sei, zu beschäftigen. 1516 Detaillierter als Maier umschrieb<br />

Humbert die Aufgaben solcher Gefängnispsychiater: «[...]on devait y introduire des consultations réguli-<br />

ères d’un psychiatre, sans compétences administratives, dont le seul rôle serait de trier les cas, de renvoyer<br />

des malades ayant besoin des soins dans les hôpitaux psychiatriques, de donner des conseils psychologi-<br />

ques pour le traitement des autres, de diriger leurs occupations d’après leurs habitudes ou leur structure<br />

mentale.» 1517 Ging es den Psychiatern bei der Forderung nach Annexen an Strafanstalten primär um das<br />

Schaffen eines funktionalen Äquivalents zu den überlasteten psychiatrischen Anstalten, so erlaubten re-<br />

gelmässige psychiatrische Konsultationen in den Strafanstalten das Ausüben einer Selektion über die in<br />

psychiatrische Anstalten zu verlegende Gruppe von Sträflingen. Auf diesen Aspekt wird in Kapitel 11.4<br />

zurückzukommen sein.<br />

Seltener vertraten Schweizer Psychiater Demedikalisierungsstrategien, die nicht auf der Ebene des Voll-<br />

zugs, sondern bei der Begutachtung ansetzten. Als einer der wenigen Psychiater betrachtete Benno Dukor<br />

das Berner Vollzugsmodell <strong>und</strong> die Tendenz, «Grenzfälle» aus psychiatrischen Anstalten an den Strafvoll-<br />

zug abzuschieben, mit Skepsis. 1518 Er nahm nach der Einführung des Strafgesetzbuchs vielmehr seine<br />

bereits 1938 gemachte Forderung nach einer restriktiveren Exkulpationspraxis wieder auf. 1519 Dukor be-<br />

trachtete die Mehrheit der Psychopathen, die «so genannten banalen kriminogenen Psychopathentypen»<br />

aus biologischer Sicht zwar für abnorm, aus moralischer <strong>und</strong> rechtlicher Sicht dagegen für voll verantwort-<br />

1510 Kielholz, 1938.<br />

1511 Kielholz, 1942, 235.<br />

1512 Kielholz, 1943, 185.<br />

1513 Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Wohlfahrt, 23, 1943, 212.<br />

1514 Binswanger, 1945, 112.<br />

1515 Wyrsch, 1945, 30.<br />

1516 Maier, 1943, 160.<br />

1517 Humbert, 1943, 172.<br />

1518 Dukor, 1953, 105.<br />

1519 Dukor, 1938, 227-229.<br />

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