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Psychiatrie und Strafjustiz

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Strafbarkeit seiner Handlung, das Verderbliche seiner Handlungsweise kommt ihm nicht zum Bewusst-<br />

sein, das Gefühl dafür geht ihm völlig ab.» 943 Expliziter als bei Jakob R. stellte das psychiatrische Deu-<br />

tungsmuster hier eine kausale Verbindung zwischen der festgestellten «Geistesschwäche» <strong>und</strong> der fehlen-<br />

den Strafeinsicht her. In ihren Augen vermochte Friedrich S., weil er schwachsinnig war, keine Einsicht in<br />

die Strafbarkeit seiner Handlungen entwickeln. Zugleich erklärte dies, weshalb er rückfällig geworden war.<br />

Die beiden angeführten Fallbeispiele zeigen, dass die Psychiater in der Fähigkeit, gesetzliche Normen<br />

nicht nur zu kennen, sondern deren Geltung gleichsam zu verinnerlichen, eine wesentliche Voraussetzung<br />

für die strafrechtliche Verantwortlichkeit sahen. Nicht allein die Leitung des Verhaltens durch äussere<br />

Normen, sondern das genuin bürgerliche Postulat einer autonomen Innenlenkung aufgr<strong>und</strong> moralischer<br />

Prinzipien stellte demnach die Norm dar, welche die Sachverständigen bei der Beurteilung der Strafein-<br />

sicht von «Schwachsinnigen» anlegten. 944 In engem Zusammenhang mit dem Postulat nach einer<br />

Verinnerlichung von Wertnormen stand die Prüfung «sittlicher Begriffe», wie sie die Sachverständigen bei<br />

verschiedenen ExplorandInnen vornahmen. So hiess es im Gutachten über Ernst S., der sich 1918 wegen<br />

Branddrohung zu verantworten hatte: «Auf der gleichen Stufe wie seine Intelligenz ist sein moralisches<br />

Empfinden. Er weiss, dass man nicht stehlen, nicht morden, nicht lügen darf <strong>und</strong> dass es strafbar ist,<br />

wenn man Häuser anzündet, weiss aber nicht, warum eigentlich diese Dinge ein Unrecht bedeuten.» 945 Bei<br />

solchen «Gewissensprüfungen» verlangen die Psychiater von den ExplorandInnen zusätzlich zum Wissen<br />

um die Strafbarkeit eine gefühlsmässige Einsicht in das Unrecht einer Handlung. Indem sie nicht nur eine<br />

Minderung der Intelligenz, sondern auch des «moralischen Empfindens» zum Kennzeichen von<br />

«Schwachsinn» erhoben, erweiterten sie die traditionelle Auffassung von «Schwachsinn», wie es im einlei-<br />

tend erwähnten Zitat von Carl Emmert noch zum Ausdruck kam. Das Schwachsinnskonzept wurde damit<br />

gleichsam in Richtung eines «moralischen Schwachsinns» geöffnet. 946<br />

«Schwachsinn» <strong>und</strong> «Triebhaftigkeit»<br />

Die Reproduktion des Schwachsinnskonzepts durch die Berner Psychiater zeigt, dass sich dieses um die<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwende nicht mehr auf Intelligenzminderungen beschränkte. Wie im Fall von Friedrich S. wurden<br />

bei «Schwachsinnigen» ebenfalls Mängel des «moralischen Empfindens» sowie der affektiven <strong>und</strong><br />

voluntativen psychischen Funktionen festgestellt. Dadurch hielt auch die Willenssemantik des bürgerli-<br />

chen Strafdiskurses Eingang in den Schwachsinnsdiskurs. Diese konzeptuelle Ausweitung kam bereits in<br />

der zweiten Auflage von Kraepelins Lehrbuch aus dem Jahre 1887 zum Ausdruck. 947 Kraepelin unter-<br />

schied hier zwischen vier Formen von «Schwachsinn»: Einer «stumpfen» («anergetischen»), einer «lebhaf-<br />

ten» («erethischen»), einer «moralischen» <strong>und</strong> einer «impulsiven» Bei all diesen vier Formen waren in un-<br />

terschiedlichem Ausmass auch die affektiven <strong>und</strong> voluntativen Funktionen betroffen. So hiess es über den<br />

«anergetischen Schwachsinn»: «Die höheren, logischen, ethischen, ästhetischen Gefühle, wie sie sich an die<br />

abstrakten Produkte der intellektuellen Tätigkeit, die Begriff des Wahren, Guten <strong>und</strong> Schönen, zu knüpfen<br />

pflegen, bleiben unentwickelt auf Kosten der niedrigen egoistischen Regungen, die das Gemütsleben des<br />

943 PZM KG 5598, Psychiatrisches Gutachten über Friedrich S., 7. Mai 1918; vgl. ebenfalls: StAB BB 15.4, Band 1842, Dossier<br />

457, Psychiatrisches Gutachten über Fritz W., 15. November 1907.<br />

944 Zur Innenlenkung des Verhaltens als genuin bürgerliches Anliegen: Hettling/Hoffmann, 1997, 338. Zum Prozess der Verinnerlichung:<br />

Dülmen, 1997, 131-133; Kittsteiner, 1991, 293-356.<br />

945 PZM KG 4979, Psychiatrisches Gutachten über Ernst S, 13. Dezember 1918; vgl. z.B. auch: PZM KG 4053, Psychiatrisches<br />

Gutachten über Fritz R., 25. November 1913; StAB BB 15.4, Band 1842, Dossier 457, Psychiatrisches Gutachten über Fritz W.,<br />

15. November 1907.<br />

946 Vgl. Lengwiler, 2000, 108-110. Allerdings darf man sich durch die begriffliche Nähe der Begriffe nicht täuschen lassen. Für die<br />

forensisch-psychiatrische Debatte um das Konzept des «moralischen Schwachsinns» war es entscheidend, dass darunter Störungen<br />

des «moralischen Empfindens» verstanden wurden, die von keiner Intelligenzminderung begleitet waren.<br />

947 Zur vereinzelten Berücksichtigung affektiver <strong>und</strong> voluntativer Momente bei der Definition von Schwachsinn in der ersten<br />

Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts: Miller/Berrios/Goodey/Thom, 1995, 229f.<br />

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