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Psychiatrie und Strafjustiz

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zeigen sein wird, begrüsste Forel euphorisch den von den Kriminalanthropologen propagierten kriminal-<br />

politischen Paradigmawechsel. Wie seine französischen <strong>und</strong> deutschen Berufskollegen stand er Lombro-<br />

sos atavistischen Verbrechertypus jedoch skeptisch gegenüber: «Es bleibt der Verdienst Lombrosos, das<br />

Interesse der juristischen Wissenschaft von der Tat auf den Täter, vom Verbrechen auf den Verbrecher<br />

abgelenkt zu haben. Doch hat Lombrosos Phantasie den Verbrecher zu sehr als spezifischen Typus <strong>und</strong><br />

zu einseitig atavistisch gestaltet. Er hat das abnorme Element zu wenig betont.» 446 Trotz dieser Kritik<br />

sprach Forel dem Atavismuskonzept eine gewisse Berechtigung nicht ab <strong>und</strong> betonte mit kulturpessimisti-<br />

schem Blick, dass unter der «dampfschnellen, socialen Kulturarbeit der Erdoberfläche» nach wie vor der<br />

«atavistische Raubtierinstinkt des Menschen» lauere. Er wandte sich lediglich dagegen, «das Pathologische<br />

<strong>und</strong> das Atavistische als Gegensätze <strong>und</strong> Streitapfel gegeneinander auszuspielen». 447 Forels eigener Fokus<br />

auf die pathologischen Züge des «geborenen Verbrechers» kam in seiner Aussage zum Ausdruck, dass<br />

zwar an der Existenz von «verbrecherischen Irren» als «eigene Kategorie von Menschen» festzuhalten sei,<br />

dass es sich bei solchen DelinquentInnen jedoch in erster Linie um «konstitutionell geistig gestörten oder<br />

abnormen Menschen mit verbrecherischen Neigungen <strong>und</strong> Trieben» handle. 448 Wie diese «Kategorie von<br />

Menschen» mit «verbrecherischen Neigungen» psychiatrisch erfasst werden konnte, demonstrierte 1896<br />

Forels Schüler <strong>und</strong> Nachfolger Eugen Bleuler in der bereits erwähnten Schrift Der geborene Verbrecher. Wie<br />

Kraepelin hielt Bleuler an der Möglichkeit rein endogener Verbrechensursachen fest <strong>und</strong> identifizierte den<br />

«geborenen Verbrecher» mit dem psychiatrischen Typus des «moralischen Idioten». Was solchen Delin-<br />

quentInnen aufgr<strong>und</strong> ihrer «minderwertigen Organisation» fehle, «sind nicht die einzutrichternden Geset-<br />

ze, sondern das ist die Möglichkeit, dieselben in der gleichen Weise, wie die ehrlichen Menschen zu ver-<br />

werten». 449 Bleuler ging sogar so weit, die Gesamtheit der DelinquentInnen als «geisteskrank» im psycho-<br />

pathologischen Sinn zu bezeichnen. 450 Das Gleichsetzen von Kriminalität <strong>und</strong> Geisteskrankheit erlaubte<br />

Bleuler, sozial abweichendes <strong>und</strong> kriminelles Verhalten an sich zu pathologisieren <strong>und</strong> auf eine mangelhaft<br />

ausgebildete Fähigkeit zur Trieb- <strong>und</strong> Affektkontrolle zurückzuführen: «Die Verbrecher sind Leute, wel-<br />

che durch Defekte in der Bildung altruistischer Begriffe oder in der Gefühlsbetonung derselben, durch<br />

Mangel an genügenden Hemmungen, durch übergrosse Stärke von Affekten oder Trieben <strong>und</strong> ähnliche<br />

Abnormitäten verhindert sind, sich innerhalb der von unseren sozialen Ordnung geforderten Schranken<br />

zu halten.» 451<br />

Nicht zuletzt wegen der dominanten Position, die Forel <strong>und</strong> Bleuler als langjährige Direktoren der Zür-<br />

cher Irrenanstalt «Burghölzli» besetzten, vermochte sich die Interpretation des «geborenen Verbrechers»<br />

als «moralischer Idiot» innerhalb der Deutschschweizer <strong>Psychiatrie</strong> vergleichsweise nachhaltige zu etablie-<br />

ren. 452 So präsentierte Bleulers Schüler Hans W. Maier (1992–1945) in seiner 1908 eingereichten Disserta-<br />

tion verschiedene Fälle von «moralischer Idiotie», worunter er «ein völliger oder teilweiser angeborener<br />

moralischer Defekt bei genügender intellektueller Anlage» verstand. Da es sich dabei um eine angeborene<br />

«Abnormität» handle, könnten solche DelinquentInnen für ihre Handlungen strafrechtlich nicht verant-<br />

wortlich gemacht werden. 453 In seinem Lehrbuch der <strong>Psychiatrie</strong> von 1916 subsumierte Bleuler selbst das<br />

Zustandsbild der «moralischen Idiotie» innerhalb der «psychopathischen Persönlichkeiten» unter der Rub-<br />

rik «Gesellschaftsfeinde». Kurz <strong>und</strong> bündig hielt er fest: «Die moralischen Idioten bilden den Kern des<br />

446 Forel, 1890, 242.<br />

447 Kölle, 1896, IV.<br />

448 Forel, 1889, 15.<br />

449 Bleuler, 1896, 20, 32.<br />

450 Bleuler, 1896, 45.<br />

451 Bleuler, 1896, 52.<br />

452 Vgl. Kölle, 1896, 4; Delbrück, 1897, 197-203; Muralt, 1903.<br />

453 Maier, 1908, 6, 27.<br />

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