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Psychiatrie und Strafjustiz

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Fazit: Thematisierung <strong>und</strong> Diskursivierung von «Sexualität»<br />

Sexuelle Praktiken <strong>und</strong> Körperfunktionen von Männern <strong>und</strong> Frauen wurden in den hier untersuchten<br />

Begutachtungsfällen in unterschiedlichen Zusammenhängen thematisiert. Stand die Thematisierung männ-<br />

licher «Sexualität» vor allem bei Sexualdelikten im Vordergr<strong>und</strong>, so diskutierten die Sachverständigen die<br />

«Sexualität» von Frauen vor allem im Zusammenhang mit «menstruellen Aufregungszuständen». Die<br />

Diskursivierung des Sexuellen in der forensisch-psychiatrischen Praxis stand dabei in einer engen Abhän-<br />

gigkeit zu zeitgenössischen Sexualitäts- <strong>und</strong> Geschlechterdiskursen. Gemäss dem Dogma von einem star-<br />

ken «natürlichen» männlichen Geschlechtstrieb erreichte männliches Sexualverhalten für die Psychiater<br />

meist erst dann eine pathologische Qualität, wenn es von der heterosexuellen Matrix der bürgerlichen<br />

Geschlechterordnung abwich. Wie der Fall von Ulrich B. zeigt, verhinderte dies aber nicht, dass auch<br />

Sexualdelikte, die nicht gegen die heterosexuelle Norm verstiessen, pathologisiert <strong>und</strong> auf nicht sexuali-<br />

tätsspezifische Diagnosen zurückgeführt werden konnten. Dagegen setzte der traditionelle gerichtsmedi-<br />

zinische Diskurs über eine spezifisch «weibliche Schwäche» kriminelle Handlungen von Frauen zur Zeit<br />

ihrer Menstruation von vornherein dem Verdacht des Pathologischen aus. Die untersuchten Fallbeispiele<br />

zeigen aber auch, dass die Berner Sachverständigen solche sexualitätsspezifische Deutungsmuster häufig<br />

mit andern Deutungsmustern wie der «psychopathischen Konstitution» verzahnten. Gerade im Zusam-<br />

menhang mit dem Topos der «weiblichen Schwäche» fällt auf, dass die Berner Psychiater um 1900 Deu-<br />

tungsmustern in der Tradition einer «weiblichen Sonderanthropologie» meist nur noch sek<strong>und</strong>äre Bedeu-<br />

tung zumassen <strong>und</strong> geschlechtsunabhängigen Deutungsmustern Priorität einräumten. Dabei zeigt sich das<br />

Potenzial der im Anschluss an die Degenerationstheorie stabilisierten neuen psychiatrischen Deutungs-<br />

muster kriminellen Verhaltens zur Integration medizinischer Wissensbestände.<br />

7.6 Die Aneignung psychiatrischer Deutungsmuster im Rahmen justizieller Entscheidungs-<br />

prozesse<br />

Ziel der vorangehenden Unterkapitel ist es gewesen, die diskursiven Strukturen derjenigen Deutungsmus-<br />

ter kriminellen Verhaltens zu analysieren, welche für die forensisch-psychiatrische Praxis im Kanton Bern<br />

zwischen 1890 <strong>und</strong> 1920 von zentraler Bedeutung waren. Der Ausgangspunkt bildete dabei die Erkennt-<br />

nis, dass psychiatrische Gutachten über die Rechtsfrage der Zurechnungsfähigkeit hinaus die eingeklagten<br />

Delikte in spezifische Sinnzusammenhänge stellten, die ihrerseits verschiedene Deutungsmuster <strong>und</strong> nor-<br />

mative Vorstellungen reproduzierten. Dabei hat sich gezeigt, dass in der Berner Justizpraxis ein ganzes<br />

Spektrum psychiatrischer Deutungsmuster zum Zuge kam, die sich nicht ohne weiteres auf einen Punkt<br />

bringen lassen. So spielte etwa das Aufspüren von Persönlichkeitsveränderungen vor allem bei «einfachen<br />

Geistesstörungen», das Feststellen von Intelligenzdefiziten dagegen bei «Schwachsinn» eine diskurstragen-<br />

de Rolle. Bei «konstitutionellen Störungen» lag der Fokus psychiatrischer Deutungsversuche dagegen auf<br />

«moralischen Schwächen» oder «abnormen Gefühlsreaktionen», die sich in einer «verminderten Wider-<br />

standskraft» gegen äussere Einflüsse manifestieren würden. Wie das Beispiel des «Schwachsinns» zeigt,<br />

konnten sich einzelne dieser Diskurselemente auch überlappen. Gleichzeitig ist auf die unterschiedlichen<br />

Implikationen dieser Deutungsmuster im Hinblick auf die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit hinge-<br />

wiesen worden. So tendierten die Berner Psychiater vor allem im Fall von «einfachen Störungen» wie<br />

«Dementia praecox» zu einer Engführung von medizinischem Krankheits- <strong>und</strong> juristischem Schuldbegriff.<br />

In so genannt «eindeutigen» Fällen erübrigte sich für die Sachverständigen teilweise sogar das explizite<br />

Thematisieren der Rechtsfrage der Zurechnungsfähigkeit. Im Zusammenhang mit «konstitutionellen Stö-<br />

rungen», aber auch mit «Schwachsinnszuständen» entwickelten die Sachverständigen allerdings komplexe-<br />

re Modelle, die dazu dienten, psychopathologische Bef<strong>und</strong>e mit den Rechtsbegriffen der Willensfreiheit<br />

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