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Psychiatrie und Strafjustiz

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dieses Regelsystems um sichernde Massnahmen kam in ihren Augen dagegen einer Preisgabe der F<strong>und</strong>a-<br />

mente des bürgerlichen Strafrechts gleich. 401 Einen Höhepunkt erlebte der Schweizer «Schulenstreit»<br />

schliesslich 1897, als Meyer von Schauensee in einer Broschüre massive Kritik an der Tätigkeit <strong>und</strong> Zu-<br />

sammensetzung der Expertenkommission von 1893 äusserte. 402<br />

Insgesamt gelang es den Kritikern des Vorentwurfs jedoch nicht, über einzelne formale Zugeständnisse<br />

hinaus eine Korrektur durchzusetzen. Die von Stooss vorgesehene pragmatische Realisierung der Re-<br />

formpostulate in Form einer Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen erwies sich über die Juristen-<br />

schaft hinaus auch bei diejenigen Strafvollzugsbeamten, Ärzten <strong>und</strong> freisinnigen Politiker als konsensfähig,<br />

die für eine rasche Vereinheitlichung des Strafrechts eintraten. Diese Gruppe aus Fachleuten <strong>und</strong> Politi-<br />

kern teilte die Überzeugung, dass eine effiziente Verbrechensbekämpfung nur durch eine pragmatische<br />

Kombination aus Strafen, sichernden, erzieherischen sowie medizinischen Massnahmen erreicht werden<br />

konnte. Über den engeren Bereich der Kriminalpolitik hinaus zeichnete sich diese Akteursgruppe durch<br />

ihre Offenheit gegenüber sozialstaatlichen Interventionen zur Regulierung potenzieller sozialer Konflikte<br />

aus. Strafrechts- <strong>und</strong> Sozialreform bedingten sich in ihren Augen gegenseitig. 403 Innerhalb der Schweizer<br />

Juristenschaft hatte der «Schulenstreit» dagegen eine eigentliche Frontbereinigung zur Folge. So wurden<br />

traditionalistische Juristen wie Gretener <strong>und</strong> Meyer von Schauensee 1895 aus dem Mitarbeiterstab der<br />

Zeitschrift für Schweizer Strafrecht <strong>und</strong> damit aus dem publizistischen Zentrum der scientific community ausge-<br />

schlossen. 404<br />

Politisierung <strong>und</strong> Verzögerung der Strafrechtsreform<br />

Im März 1896 legte die Expertenkommission einen bereinigten Vorentwurf vor, der die Gr<strong>und</strong>züge der<br />

von Stooss konzipierten Zweispurigkeit von Strafen <strong>und</strong> Massnahmen übernahm. 405 Die Strafrechtsre-<br />

former hatten sich somit durchsetzen können. Mit dem konsolidierten Vorentwurf waren die Vorberei-<br />

tungen für die Strafrechtseinheit vorerst abgeschlossen. Was auf der politischen Ebene nun anstand, war<br />

das Schaffen einer Verfassungsgr<strong>und</strong>lage, die dem B<strong>und</strong> die Kompetenzen zur Strafgesetzgebung über-<br />

trug. Im Frühjahr 1896 beauftragte das Justizdepartement Stooss, einen Botschaftsentwurf über die Strafrechtseinheit<br />

zu verfassen. Einen analogen Auftrag erhielt Eugen Huber für die Vereinheitlichung des<br />

Privatrechts. 406 Aufgr<strong>und</strong> der Entwürfe von Huber <strong>und</strong> Stooss veröffentlichte der B<strong>und</strong>esrat Ende No-<br />

vember 1896 seine Botschaft über die Einführung der Rechtseinheit, die vom Ständerat im März 1897 <strong>und</strong><br />

vom Nationalrat im Juni 1898 behandelt wurde. 407<br />

Mit der Verlagerung auf die politische Ebene erfuhr die Strafrechtsdebatte eine merkliche Akzentver-<br />

schiebung. Hatten sich die juristischen Expertendiskussionen <strong>und</strong> der «Schulenstreit» der 1890er Jahre<br />

primär mit Fragen der kriminalpolitischen Ausgestaltung des künftigen Einheitsstrafrechts beschäftigt, so<br />

trat nun die staatspolitische Gr<strong>und</strong>satzfrage der Rechtseinheit in den Vordergr<strong>und</strong>. Die Parlamentsdebat-<br />

ten über die Rechtseinheit von 1897/98 standen ganz im Zeichen der Verteidigung der kantonalen Souve-<br />

ränität durch die Gegner der Rechtseinheit, die sich vor allem aus dem Lager der Katholisch-<br />

Konservativen, aber auch aus liberalen Parlamentariern der Romandie rekrutierten. 408 Die Politisierung der<br />

401 Expertenkommission, 1893 I; II, 414-422.<br />

402 Meyer von Schauensee, 1897; vgl. Gschwend, 1994, 38-42.<br />

403 Vgl. zum Verhältnis von Strafrechts- <strong>und</strong> Sozialreform: Zürcher, 1882, 515; Stooss, 1891, 252f.; Stooss, 1894b, 16-19.<br />

404 Vgl. Luminati, 1999, 59; Holenstein, 1996, 397-401.<br />

405 VE 1896.<br />

406 Vgl. Holenstein, 1996, 403f.<br />

407 Botschaft des B<strong>und</strong>esrates an die B<strong>und</strong>esversammlung, betreffend die Revision der B<strong>und</strong>esverfassung zur Einführung der<br />

Rechtseinheit, 28. November 1896, in: BBl, 1896 IV, 733-790.<br />

408 Vgl. Caroni, 1999, 48-51.<br />

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