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Psychiatrie und Strafjustiz

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auch heute noch aufrecht. Binggeli leidet auch heute noch an einer bestimmten Form von Geistesstörung,<br />

die ich allerdings heute besser verstehe als damals, <strong>und</strong> er hat seine Mordtaten infolge seiner Störung voll-<br />

bracht, aus krankhaftem Hass <strong>und</strong> Wahn. Er ist deshalb als unzurechnungsfähig anzusehen, aber freilich<br />

als gemeingefährlichen Geisteskranken dauernd zu versorgen.» 880 Von Speyr qualifizierte die von seinen<br />

Kollegen als eine «fast bis zur fixen Idee gediehenen Überzeugung» bezeichnete Meinung Binggelis, er sei<br />

von seinen Angehörigen hintergangen worden, als eigentliche «Wahnidee». In seinen Augen war die Mord-<br />

tat nicht Ausdruck eines «abnormen Charakters», sondern einer eigentlichen Geisteskrankheit: «Aus seiner<br />

Krankheit verstehe ich nun Binggelis Tat. Ich führe sie auf krankhafte Motive zurück <strong>und</strong> kann sie mir mit<br />

diesen, aber auch nur mit diesen ganz, erklären.» 881 Diese Deutung der Tat unterschied sich zwar bezüg-<br />

lich der Einschätzung des Geisteszustands deutlich vom Gutachten der Ärzte aus Münsingen. Dennoch<br />

reduzierte auch sie die Tat auf die krankhafte Individualität des Täters. Wie das Zurückführen der Tat auf<br />

einen «abnormen Charakter», so brachte auch die Annahme einer Geisteskrankheit den sozialen Kontext<br />

des Verbrechens zum Verschwinden.<br />

Für die Geschworenen ergab sich damit eine schwierige Situation. Welchem der beiden psychiatrischen<br />

Deutungsversuche sollten sie folgen? War die Tat als die Folge einer Geisteskrankheit anzusehen oder war<br />

sie Ausfluss eines «krankhaften Charakters»? Oder liess sie sich allein auf den Hass Binggelis gegen seine<br />

Familie zurückzuführen? Für den Ausgang des Prozesses war die Beantwortung dieser Fragen zweifellos<br />

entscheidend. Die Annahme einer Geisteskrankheit implizierte eine Verneinung der Zurechnungsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> damit einen Freispruch. Das Gutachten aus Münsingen beliess bezüglich der Einschätzung der Zu-<br />

rechnungsfähigkeit einen Ermessensspielraum. Die Interpretation der Tat als Racheakt hätte dagegen eine<br />

Verurteilung wegen Mordes wahrscheinlich gemacht. Erstaunlicherweise war es Binggeli selbst, der das<br />

Dilemma des Gerichts löste. Wie der Verteidiger in seinem Plädoyer ausführte, verlangte Binggeli, «die<br />

von ihm begangene Tat zu sühnen <strong>und</strong> zwar im Zuchthaus <strong>und</strong> nicht im Irrenhaus; Binggeli wünsche<br />

auch nicht, dass man annehme, er habe den Mord im Zustande geminderter Zurechnungsfähigkeit began-<br />

gen». Binggeli selbst bekräftigte vor dem Gericht seinen Wunsch, die Tat in der Strafanstalt zu sühnen.<br />

Sein Gewissen <strong>und</strong> sein Rechtsgefühl würden dies verlangen. Aufgr<strong>und</strong> dieser Aussage sprachen die Ge-<br />

schworenen Binggeli schuldig <strong>und</strong> das Gericht verurteilte ihn zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe.<br />

Eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit lehnten die Laienrichter ab. 882 Binggeli selbst begründete<br />

später seinen Wunsch mit finanziellen Überlegungen: in der Irrenanstalt hätte er im Gegensatz zum<br />

Zuchthaus selbst für das Kostgeld aufkommen müssen. 883<br />

Fazit: Psychiatrische Gutachten als Bestandteil kollektiver Sinngebungsprozesse<br />

Die ausführliche Wiedergabe dieses Fallbeispiels rechtfertigt sich aus verschiedenen Gründen. Exempla-<br />

risch verdeutlicht der «Fall Binggeli» die Funktion psychiatrischer Begutachtungen innerhalb kollektiver<br />

Sinnbildungsprozesse. Strafverfahren waren (<strong>und</strong> sind) immer auch Prozesse der Sinnstiftung, in deren<br />

Verlauf Normabweichungen in spezifische Sinnzusammenhänge gestellt werden. Das Herstellen solcher<br />

Sinnzusammenhänge war um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende eine zentrale Funktion psychiatrischer Gutachten. Mit<br />

ihren Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit kamen die psychiatrischen Sachverständigen dem (wach-<br />

880 Speyr, 1917, 374. Von Speyr veröffentlichte seine – mündlich abgegebene – Aussage mehr als 15 Jahre nach dem Prozess<br />

gegen Binggeli im Zusammenhang mit einem neuen Gutachten. Anlass zu diesem Gutachten gab das Geständnis Binggelis, der<br />

sich auf dem Thorberg in Haft befand, er habe bereits vor der Mordtat eine Brandstiftung begangen. Das Protokoll der Verhandlung<br />

vom Juni 1901 enthält keine Angaben zur Aussage von Speyrs; vgl. StAB BB 15.4, Band 90, Verhandlung vom 20./21. Juni<br />

1901. Angaben zur Aussage von Speyrs dagegen in: Der B<strong>und</strong>, 22. Juni 1901.<br />

881 Speyr, 1917, 381.<br />

882 StAB BB 15.4, Band 90, Verhandlung der Assisen, 20./21. Juni 1901.<br />

883 Speyr, 1917, 384. Aussage Binggelis gegenüber dem kantonalen Gefängnisinspektor.<br />

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